Der Frauenjäger
Meter.
«Ich brauche sie dringend», erklärte Karola. «Hast du gerade den Polizeibericht gehört?»
«Ich höre ihn noch», sagte Marlene. Manfred Kolber parierte soeben eine scherzhafte Bemerkung von Bernd Meisen und verabschiedete sich danach.
Und Karola fragte: «Willst du raten, wer den abgestellten Kieslaster gestreift und sich dreimal überschlagen hat? Mein Gott, mir ist so übel. Sie haben fast eine Stunde gebraucht, um sie aus dem Wagen zu schweißen. Passiert ist es kurz vor elf. Und das kann ja wohl nicht hinkommen. Sie ist lange vor zehn weg. Ich hab nicht auf die Uhr gesehen, aber ich meine, es wäre kurz nach halb gewesen. Sie hat doch für die vier Kilometer nicht über eine Stunde gebraucht. Kolber hat von seinen Kollegen gehört, sie hätte stark nach Alkohol gerochen. Das kann auch nicht sein. Sie hatte nur den Schluck Sekt bei Annette. Du warst dabei, Marlene. Du kannst bezeugen, dass sie nichts getrunken hat und wann sie losgefahren ist. Machst du’s?»
Marlene hatte zugestimmt, noch ehe sie vollends begriff, was Karola von ihr verlangte. Sie erfasste nur, dass die Rede von Heidrun Merz war.
Karola ließ ihr nicht einmal die Zeit zu duschen. Punkt neun sollte sie im Studio sein. «Sei um Gottes willen pünktlich!» So blieb ihr nur eine knappe halbe Stunde. Sie tauschte eilig den Hausanzug gegen Alltagskleidung, nahm reichlich Deo, sprühtesich zusätzlich mit Eau de Parfum ein – es war derselbe Duft –, und fuhr mit dem Kamm durchs Haar. An Make-up dachte sie nicht.
Eigentlich dachte sie gar nicht, reagierte nur. Karolas Stimme hatte in ihrem Kopf ein Vakuum hinterlassen, in dem Erinnerungsfragmente herumschwirrten. Sie sah Heidrun Merz beim Italiener die Tomatenstücke aus dem Salat klauben, sah den silbergrauen Peugeot mit laufendem Motor auf dem Parkplatz beim Einkaufscenter warten, sah die zierliche Frau Geldscheine in die Hand des Wachmanns drücken und mit unbewegter Miene die Widmung auf Fischers lädiertes Buch schreiben. Sie sah sie lesend am Stehpult und blutend in Werners Arm. Und dazwischen hörte sie immer wieder Karolas Stimme, nicht den hektisch fassungslosen Ton von eben, sondern den beleidigten vom vergangenen Abend.
«Was denkt ihr eigentlich von mir? Er wollte
Killing Me Softly
hören – mit einem schönen Gruß von Mona.»
Erst nachdem sie die Tür hinter sich zugezogen hatte, die von der Diele in die Doppelgarage führte, stellte Marlene fest, dass sie keinen Schlüssel hatte, um abzuschließen. Sie hatte im Hinausgehen reflexartig nach der schwarzen Handtasche gegriffen, die sie gestern Abend mit zur Lesung genommen hatte. Darin befand sich neben der Brieftasche mit Ausweispapieren und ihrer Geldbörse ein Christophorus-Anhänger, an dem der Zündschlüssel für den Van, die Fernbedienung fürs Garagentor und eine winzige LE D-Lampe befestigt waren.
Der Anhänger war ein Werbegeschenk von Scheidweber & Co gewesen, Andreas Jäger hatte vor vier Jahren ein halbes Dutzend davon im Freundeskreis verteilt. Christophorus war der Schutzpatron der Reisenden, genau richtig für den Autoschlüssel. Ihr Hausschlüssel hing an der Hakenleiste neben der Garderobe.
Werner trug sämtliche Schlüssel an einem Bund. Er hatte früherimmer den Motor abstellen müssen, um das alte Garagentor aufzuschließen. Ihr war das damals zu lästig gewesen. Nach dem Einbau des elektrischen Tors waren die beiden Schlüsselringe für sie längst Gewohnheit.
Und jetzt war nicht die Zeit, sich zu ärgern, weil sie Werners gutgemeinten Rat in den Wind geschlagen und die Schlüssel nicht zusammengesteckt hatte. Die Tür war zu und Werner garantiert schon auf dem Weg nach Düsseldorf. Aber die Kinder hatten beide einen Schlüssel für die Haustür.
Leider wechselten Johanna und Leonard mit jedem Unterrichtsblock in einen anderen Raum. Marlene kannte die Stundenpläne nicht auswendig. Sie müsste im Sekretariat nachfragen und anschließend den Unterricht stören. Egal, vor den Kindern und einer Schulsekretärin musste sie sich nicht rechtfertigen für einen Moment der Eile und Gedankenlosigkeit. Wirklich gedankenlos war sie ja auch nicht. In ihrem Kopf überschlugen sich immer noch die Eindrücke des vergangenen Abends.
Als sie endlich im Van saß, blieben ihr noch zwanzig Minuten für eine Strecke, auf der Karola auch dann sechsmal die Woche ihr Leben riskierte, wenn die Straße nicht glatt war. Man sollte nicht glauben, wie viele Idioten tagtäglich unterwegs waren. Da wurde trotz
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