Der Frauenjäger
wirkten einschläfernd. Marlene dämmerte weg, ohne es zu registrieren. Es war nach einer viel zu kurzen Nacht ein langer und zuletzt auch noch aufregender Tag gewesen.
Irgendwann fühlte sie, dass Werner ihr das Buch aus den Fingern zog und einen Kuss auf ihre Stirn hauchte.
«Nicht erschrecken», sagte er, als sie ins Licht blinzelte.
Er hatte die Deckenlampe auf schummrige Beleuchtunggedimmt. Doch die dunklen Flecken auf seiner weißen Hemdbrust hoben sich deutlich ab.
«Mir ist nichts passiert», versicherte er sofort, um sie zu beruhigen. «Der Anzug liegt im Bad. Bist du so lieb und bringst ihn morgen in die Reinigung? Vielleicht ist er zu retten.»
Natürlich erschrak Marlene trotz der behutsamen Einleitung. Ein blutverschmiertes Hemd, das Unterhemd darunter war ebenfalls dunkelrot durchtränkt. Dass ihm angeblich nichts passiert war, beruhigte sie im ersten Moment überhaupt nicht. Damals beim Hausbau war er von einer verschmierten Leitersprosse abgerutscht und hatte sich beim Sturz mit einem Spannungsprüfer in den linken Unterarm gestochen. Tagelang hatte er den Arm nicht richtig gebrauchen können. Aber ihm war «gar nichts passiert».
«Hattest du einen Unfall?», fragte sie entsetzt.
«Ich nicht», sagte er. «Es hatte schon gekracht, als ich von der Autobahn herunterkam. An der Zufahrt zur Kiesgrube.»
Marlene sah die Stelle augenblicklich vor sich. Kurz vor der Autobahnauffahrt Richtung Köln führte ein unbefestigter Weg von der Landstraße zur Kiesgrube. Sie nickte automatisch.
Werner sprach weiter: «Es hatten bereits zwei Wagen angehalten. Die Unfallstelle war gesichert, Polizei und Rettungskräfte verständigt. Ich hätte weiterfahren können. Aber keiner traute sich an die Frau in dem Unfallfahrzeug heran. Sie war eingeklemmt und bewusstlos, hatte wohl innere Verletzungen und blutete stark aus einer Kopfwunde. Viel für sie tun konnte ich nicht, sie nur durch die zerborstene Seitenscheibe halten. Man kann einem Menschen in so einer Lage doch nicht nur beim Sterben zusehen.»
«Ist sie tot?», fragte Marlene schockiert.
Werner zuckte mit den Achseln. «Als der Notarzt eintraf, war ihr Puls kaum noch tastbar.»
Er strich sich mit einem Handrücken über die Augen, alskönne er den Anblick wegwischen. Als er weitersprach, klang er wie immer. «Ich springe noch schnell unter die Dusche. Das Hemd und die Unterwäsche stopfe ich am besten gleich in den Mülleimer. Ich glaube nicht, dass die Flecken vollständig rausgehen.» Damit verließ er das Schlafzimmer wieder.
Marlene blinzelte zum Radiowecker hinüber. Achtzehn Minuten vor zwölf.
Als Werner zurückkam, bestückte er den Herrendiener mit den Sachen, die er donnerstags anziehen wollte. Es wäre ihr lieb gewesen, er hätte weitererzählt, seine Gefühle, sein Entsetzen ausgesprochen, auf die Weise etwas von seiner Ohnmacht und dem Schock angesichts einer schwerverletzten Frau verarbeitet. Doch er wollte sie damit nicht belasten.
«Lass uns lieber schlafen», sagte er, als er sich in seine Betthälfte legte und das Licht löschte. «Sonst kommen wir gar nicht mehr zur Ruhe.» Das kamen sie auch so nicht.
Als Marlene kurz nach zwei aufstand, um die scheußlichen Bilder in ihrem Kopf – ein bis zur Unkenntlichkeit demoliertes Auto und eine blutüberströmte Frau in Werners Arm – mit einer Pille auszuschalten, wollte Werner wissen: «Wo willst du hin?»
«Hab ich dich geweckt?», fragte sie.
«Nein. Aber das ist keine Antwort. Wenn du auch nicht schlafen kannst, nimm Baldrian, aber nicht wieder dieses Teufelszeug, von dem dir jedes Mal übel wird.»
«Baldrian», wiederholte sie frustriert. «Da kann ich auch Bonbons lutschen.»
«Dann tu das», empfahl Werner. «Aber lass das Zeug aus dem Leib. Sei vernünftig, Marlene. Denk an die Mutter von Andreas. So willst du doch bestimmt nicht enden.»
Natürlich nicht. Aber mit freiverkäuflichen Schlaftabletten, von denen sie nur im äußersten Notfall eine nahm, konnte sie ihrer Meinung nach auch gar nicht so enden. Doch sie wollteihn weder verärgern noch eine endlose Diskussion vom Zaun brechen, legte sich wieder hin, schloss die Augen und probierte es noch einmal mit der Vorstellung, mit der sie in der vergangenen Nacht in den Schlaf gerutscht war. Der neue Friedhof, ein offenes Grab, Werners blumengeschmückter Sarg – oder besser eine Urne –, weinende Kinder, fassungslose Freunde …
Lügen
14. Januar 2010 – Donnerstagmorgen
Um zehn vor sechs holte Herbert
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