Der Frauenjäger
Gegenverkehr rücksichtslos überholt, sogar im Kreisverkehr und beim Abbiegen telefoniert. Da wurden – während der Fahrt und von Fahrer oder Fahrerin – Kleinkinder auf der Rückbank versorgt und Straßenkarten gelesen oder am Navigationsgerät herumgespielt.
Abends und nachts war es nicht gar so dramatisch, was den Verkehr anging, da war es im Gegenteil sehr einsam. Und eine Frau allein unterwegs in einem alten Ford Escort, der jederzeit liegenbleiben konnte, wäre ein willkommenes Opfer für jeden potenziellen Vergewaltiger – meinte jedenfalls Karola. Sie fuhr immer nur haarscharf an den Katastrophen vorbei.
Dass Karola hinter dem schweren Unfall an der Kiesgrube allemöglichen und unmöglichen Ursachen vermutete, war nicht verwunderlich. Aber anderthalb Stunden nachdem Heidrun Merz sich beim Italiener verabschiedet hatte? Das war tatsächlich mysteriös. Und betrunken konnte die Autorin keinesfalls gewesen sein.
Sie hatte nach der Lesung nicht mal ein halbes Glas Sekt getrunken, eigentlich nur am Schaum genippt. Marlene sah es noch vor sich. Als Annette ihr das Sektglas füllte, hatte Heidrun Merz schnell abgewinkt. Als Annette nachschenken wollte, hatte sie die Hand über das Glas gehalten. Und dann um Wasser gebeten. Werner hatte in der Nacht auch keinen Alkoholgeruch erwähnt.
Der Wagen vor ihr bremste plötzlich aus unerfindlichen Gründen. Marlene registrierte es im letzten Moment und stieg ebenfalls auf die Bremse. Der Van geriet ins Schlingern, sie fing ihn irgendwie ab und verhinderte knapp einen Zusammenstoß.
Während ihr Vordermann wieder beschleunigte, machte sich in ihr ein intensives Gefühl von Unbehagen breit. Völlig unrecht hatte Karola mit den Gefahren der Straße natürlich nicht. Und so schnell konnte das gehen. Einen Moment nicht aufgepasst. Vielleicht war Heidrun Merz gestern Abend auch mit ihren Gedanken woanders gewesen und hatte nicht so blitzschnell reagieren können wie sie gerade eben.
Abgesehen von dem einen unangenehmen Zwischenfall kam sie zügig voran. Siebzig Stundenkilometer waren erlaubt, daran hielten sich auch alle notgedrungen.
Das Autoradio hatte sich in der Garage automatisch mit der Zündung eingeschaltet, nur war es auf einen Sender eingestellt, der ausschließlich flotte englische Musik spielte. Es gab fünf winzige Drucktasten mit festen Senderbelegungen, Werner hatte die Programmierung übernommen.
Auf den ersten zehn Kilometern drückte Marlene systematischeine Taste nach der anderen und musste sich anschließend bis zum nächsten Wortbeitrag gedulden. So dauerte es jedes Mal ein Weilchen, ehe sie feststellte, dass sie den Lokalsender wieder nicht erwischt hatte. Und jedes Mal, wenn sie lauschte, geisterte ihr Herbert Grönemeyer durch den Kopf.
Männer sind etwas sonderbar. Männer sind allzeit bereit. Männer bestechen durch ihr Geld und ihre Lässigkeit … müssen durch jede Wand, müssen immer weiter.
Hatte Werner den Alkoholgeruch nur verschwiegen, weil es ihm ohnehin unangenehm gewesen war, mit ihr über den Unfall zu reden? Warum war ihm das denn so unangenehm gewesen? Sie war doch kein Kind, das man nicht unnötig ängstigen wollte. Manchmal übertrieb er mit seiner Beschützerrolle.
Reiß dich zusammen, Marlene, rief sie sich selbst zur Ordnung, als ihr bewusstwurde, dass ihre Gedanken erneut abschweiften. Konzentrier dich auf den Verkehr und das Wesentliche. Karola erwartet von dir, dass du dem Pressesprecher der Kreispolizei erklärst, wann Heidrun Merz sich beim Italiener verabschiedet hat und dass sie zu dem Zeitpunkt stocknüchtern war.
Dass sie einmal dermaßen wichtig werden könnte, hätte sie sich nie träumen lassen. Eine unvoreingenommene Zeugin, der ein Polizist Glauben schenken musste, was bei Karola offenbar nicht der Fall war. Aber wer Karola kannte, glaubte ihr eben nur knapp die Hälfte.
Der Gedanke, dass es unüblich war, eine wichtige Aussage im Lokalsender vom Pressesprecher der Polizei aufnehmen zu lassen, kam ihr in der Aufregung nicht. Wäre ihr bewusstgeworden, worauf das Zusammentreffen hinauslief, hätte sie wohl auf der Stelle kehrtgemacht.
Endlich hörte sie den Moderator, der kurz vor halb neun mit launigen Worten Manfred Kolber begrüßt hatte. Nun klang seine Stimme getragen. Bernd Meisen gab das Wort an Karolaweiter, die versprach für die nächsten Stunden eine Tragödie. «Bleiben Sie dran, ich zähle auf Sie.»
Jetzt kamen noch ein Lied, der Werbeblock und die Nachrichten. Dann ging es los. Aber
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