Der Frauenjäger
Marlene war am Ziel, musste nur noch einen Parkplatz finden und den Van abstellen. Aus den Lautsprechern in den Türverkleidungen drangen die Stimmen junger Männer.
«When I Die.»
Den Song hatte vermutlich Karola ausgesucht. Er war schon älter. Die Gruppe hieß No Mercy. Wie passend, dachte Marlene bei ihrer Übersetzung: Keine Gnade, wenn ich sterbe.
Nummer neun
Ein Flämmchen im Universum. Sonderlich weit leuchtete es nicht. Nur in einem Umkreis von drei, vier Metern waren größere Steine und die Unregelmäßigkeiten im Boden relativ gut zu erkennen. Marlene konnte die beiden Streifen ausmachen, die ihre Knie auf dem letzten Stück gezogen hatten. Schemenhaft sah sie auch das Papiertuch, das bei der stinkenden Lache zurückgeblieben war. Alles, was weiter als vier, fünf Meter entfernt war, bestand aus vagen Konturen in unterschiedlichen Grautönen. Und hinter dem Grau war es schwarz.
Sie hielt das brennende Zündholz, bis es ihr die eiskalten Fingerkuppen versengte. Dann ließ sie es fallen. Und vielleicht wäre es besser gewesen, nicht zu sehen, dass es nichts zu sehen gab. Sie konnte sich danach längere Zeit nicht aufraffen, weiter ohne jede Orientierung auf wunden, pochenden Knien durch totale Finsternis zwischen Steinen herumzukriechen. Wohin denn?
Jetzt kamen die Fragen, die Panik, Benommenheit und Verwirrung bisher zurückgehalten hatten. Wo um alles in derWelt war sie? Und wie zum Teufel war sie in dieses schwarze Loch geraten? Nicht aus eigenem Antrieb und nicht aus eigener Kraft! Darauf hätte sie geschworen, obwohl sie sich nicht erinnerte. Das führte sie zu dem Schluss, sie sei betäubt worden.
In etlichen Thrillern, die sie gelesen hatte, waren Frauen Drogen verabreicht worden, ohne dass sie etwas davon bemerkt hatten. Man hörte von solchen Fällen auch oft in Fernsehsendungen, und dann war es keine Fiktion. Liquid Ecstasy oder Gamma Hydroxy Buttersäure, kurz GHB. Sogenannte Vergewaltigungsdrogen, mit denen die Opfer außer Gefecht gesetzt wurden. Aber man musste eine betäubte Frau nicht zwangsläufig vergewaltigen. Was das anging, war ihr nichts passiert, da war sie sicher. Sonst wäre sie kaum so ordentlich und vollständig angezogen.
Der Verdacht gegen Werner, der sie seit ihrer Panikattacke beschäftigt und verhindert hatte, dass sie richtig in Panik geriet, schien damit ad absurdum geführt. Ein Mann, der ein harmloses Schlafmittel verteufelte, würde seiner Frau niemals Drogen verabreichen. Aber wer – verdammt nochmal – hatte sie dann in dieses schwarze Loch gebracht? Und schließlich die wichtigste Frage: Warum?
Ein Scherz! Es konnte nur ein bitterböser, hundsgemeiner, grausamer Scherz sein. Eine Bestrafung für die Begräbnisphantasien, obwohl davon niemand wusste, es sei denn, sie hätte mal im Schlaf gesprochen und Werner die richtigen Schlüsse aus ihren Worten gezogen. Was wiederum bedeutete, dass er doch dahintersteckte. Da waren ja auch noch die Unzufriedenheit mit dem von ihm so perfekt geplanten Leben, eine gewisse Aufmüpfigkeit und Widerstand gegen seine Wünsche und Entscheidungen in den letzten Tagen.
Nachdem sie begonnen hatte, sich mit
Monas Tagebuch
zu beschäftigen, war sie nicht mehr so nachgiebig gewesen wie inall den Jahren zuvor. Es kam jedenfalls einiges zusammen, was ein Pedant vielleicht für strafwürdig befand.
Und wenn man gute Freunde hatte, musste man nicht selbst aktiv werden. Dann erfuhr man auch nicht unbedingt, mit welchem Pülverchen oder Tröpfchen die Ehefrau außer Gefecht gesetzt worden war. Vielleicht sagte man auch: «Tu, was du für richtig hältst. Ich will es gar nicht so genau wissen. Hauptsache, sie kommt wieder zur Vernunft.»
Die ständige Wiederholung des Liedes untermauerte ihre ungeheuerliche Vermutung noch. So vielen Leuten hatte sie nicht von ihrer besonderen Beziehung zu Lucy Jordan erzählt. Einer der wenigen war Werner.
Mechanisch massierte sie ihre geschundenen Knie, kämpfte tapfer gegen die aufsteigenden Tränen an und lutschte das köstliche Pfefferminzbonbon, bis nichts mehr davon übrig war. Es hatte einen weichen Kern, der ihren Mund ganz klebrig und ihren Durst unerträglich machte. Das brachte sie dazu, sich wieder auf das Vordringliche zu konzentrieren.
Wasser! Sie musste unbedingt etwas trinken, ehe der Durst sie verrückt machte. Und eben – vor zwei oder drei Balladen – hatte sie das Plätschern doch noch deutlich gehört. So weit konnte sie sich in der kurzen Zeit nicht entfernt haben.
Sie wartete
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