Der Frauenjäger
modernen Raum mit den merkwürdigen jungen Leuten die unbestrittene Autorität.
Eilig, aber trotz der Zeigerstellung auf der großen Wanduhr keineswegs hektisch, übernahm sie die Vorstellung.
Frau Weißkirchen, Herr Kolber
. Im selben Atemzug fragte sie die Blondine: «Wie steht’s, Elke?»
«Ex», bekam sie zur Antwort. «Aber das ist noch nicht offiziell. Sie bleibt an der Maschine, bis die Angehörigen eingetroffen sind.» Elke lispelte ein wenig, in ihrer Zungenspitze steckte auch ein Stückchen Metall.
Karola schloss für einen Moment die Augen. «Ihr Sohn ist erst drei, darüber darf man gar nicht nachdenken.» Das tat sie offenbar auch nicht. Sie stellte mit einem Blick auf die Wanduhr fest: «Wir müssen.» Dann griff sie nach Marlenes Arm und wies den Regenbogenmann an: «Leg dir einen Zettel rein, Heiko. Du kannst heute Nachmittag weiterlesen. Ich will für denAuftakt etwas Getragenes, aber keine Klassik. Was passt zum Thema?»
Heiko nahm die Hände herunter, hob den Kopf und schien zu überlegen. «Days of Pearly Spencer?», schlug er zögernd vor.
«Quatsch», fuhr Karola ihn an. «Ich moderiere doch nicht die Formel 1.»
Marlene fühlte sich befangen. Ex! Niemand musste ihr erklären, was das bedeutete. Elke hatte mit einem Krankenhaus telefoniert, offenbar eine gute Beziehung angezapft. Heidrun Merz war tot und hinterließ einen dreijährigen Sohn. Von einem Kind war gestern Abend nicht die Rede gewesen. Aber welche Rolle spielte das? Der Kleine würde ohne Mutter aufwachsen, weil Heidrun Merz in
Annettes Bücherstube
aus dem Tagebuch seiner Tante gelesen hatte.
Man mochte sich endlos den Kopf zerbrechen, was letztlich dazu geführt hatte, dass Mona meinte, an einem gebrochenen Bein zu sterben, und warum der silbergraue Peugeot ihrer Schwester sich mit fast anderthalb Stunden Verspätung bei der Kiesgrube dreimal überschlagen hatte. Die eigentliche Ursache für alles war das Gefühl, überflüssig zu sein.
«The Ballad of Lucy Jordan», sagte Marlene. Mit der Überlegung, die ihr jedes Mal wieder in den Sinn kam, wenn sie diesen Song hörte, ob der Staubsaugerschlauch auf das Auspuffrohr passte und lang genug war, um durchs Seitenfenster geschoben zu werden, war es fast ein Verrat an sich selbst.
Karola betrachtete sie nachdenklich und nickte. «Das habe ich gestern schon gebracht, in Zusammenhang mit dem Hinweis aufs Buch und die Lesung. Aber daran kann ich anknüpfen. Gut. Das nehmen wir. Anschließend bringen wir den Unfallbericht.»
Das ging an Manfred Kolber, mit dem nächsten Satz oder Befehl wandte Karola sich wieder an Marlene: «Danach erzählst du etwas über
Monas Tagebuch
und deine Eindrücke. Soin Richtung verhängnisvolle Affäre. Du weißt schon, was ich meine.»
Nein, das wusste Marlene nicht. «Ich dachte, ich soll erklären, dass Frau Merz gestern Abend keinen Alkohol getrunken hat und wann sie aufgebrochen ist.»
Manfred Kolber betrachtete sie mit unbewegter Miene. Das Büchlein hatte er nicht aus der Hand gelegt, hielt einen Finger zwischen die Seiten, auf denen er zuletzt gelesen hatte. «Erklä ren ?», fragte er mit einem merkwürdigen Unterton.
«Bezeugen», stellte Karola richtig. «Und das kann nicht nur Frau Weißkirchen. Die Buchhändlerin, der Restaurantbesitzer und der Kellner werden Ihren Kollegen ebenfalls bestätigen, dass Frau Merz gegen einundzwanzig Uhr dreißig und vollkommen nüchtern in ihren Wagen gestiegen ist.»
Während Karola sprach, zog sie Marlene am Arm in den Flur, öffnete eine Tür und schob sie in den dahinter liegenden Raum. Manfred Kolber schloss sich ihnen mit
Monas Tagebuch
an.
Das Studio, von dem Karola häufig erzählte, erwies sich als relativ kleiner Raum, der beherrscht wurde von einem vor Technik strotzenden Pult, über dem zwei große Flatscreens thronten. Davor stand ein rotgepolsterter Bürostuhl. Zwischen drei Dutzend Schiebereglern und unzähligen, teils beleuchteten Tasten stand das berüchtigte Mikrophon, daneben lag ein Kopfhörer. An der Seite gab es noch ein weiteres Mikrophon für Studiogäste, davor standen zwei einfache Stühle mit gepolsterten Sitzflächen. Das war schon alles, wenn man von einem Kalender, einer Wanduhr und einem Regal voller CDs absah.
Karola schob Marlene weiter durch zu den beiden Stühlen, Manfred Kolber folgte. Nachdem sie beide Platz genommen hatten – Marlene gezwungenermaßen in der hintersten Ecke –, vertiefte er sich sofort wieder in
Monas Tagebuch
.
Karola ließ sich auf
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