Der Frauenjäger
anderen auch nicht besonders sensationslüstern.
Marlene war so sehr darauf fixiert, sich nicht zu blamieren, dass sie sich automatisch vorbeugte, wie Kolber es getan hatte. «Guten Morgen», sagte sie ebenfalls, ehe sie Karolas Frage beantwortete: «Ja, das kann man so sagen. Nach der Lesung waren wir noch zusammen essen. Wir sind seit der Schulzeit miteinander befreundet.»
Mit dem letzten Satz war selbstverständlich Annette gemeint. Das musste Karola genauso gut wissen wie sie. Und Karola sagte in Gegenwart des Pressesprechers der Kreispolizei ins Mikrophon und damit in zigtausend Ohren: «Umso mehr muss ich mich bei Ihnen bedanken, dass Sie nun hier sitzen und nicht bei Ihrer Freundin in der Klinik.»
Es verschlug Marlene die Sprache. Natürlich hätte sie sagen können: «Entschuldigung, das war ein Missverständnis. Ich bin mit der Buchhändlerin Annette Barlow zur Schule gegangen,nicht mit Heidrun Merz.» Der Gedanke kam ihr nur nicht sofort. Stattdessen tippte sie sich heftig an die Stirn und formulierte tonlos: «Bist du bescheuert?»
Karola machte sich nicht einmal die Mühe, es von ihren Lippen abzulesen, und wandte sich wieder an Manfred Kolber. «Herr Kolber, was können Sie uns über das tragische Ereignis der vergangenen Nacht erzählen?»
«Nicht viel», sagte der Polizist. Er hatte wirklich Erfahrung und nicht vor, sich eine Blöße zu geben. «Den bisherigen Erkenntnissen zufolge touchierte der Wagen von Frau Merz gegen dreiundzwanzig Uhr einen ordnungsgemäß abgestellten Lkw. Ob ein weiteres Fahrzeug beteiligt war, lässt sich zurzeit noch nicht sagen. Es gab keine unmittelbaren Unfallzeugen und an der Unfallstelle auch keine Hinweise auf einen dritten Wagen. Möglicherweise war die Fahrbahn stellenweise vereist und rutschig.»
«Aber hieß es nicht», versuchte Karola ihn festzunageln, «Frau Merz sei stark alkoholisiert gewesen und habe die Zufahrt zur Kiesgrube mit der Autobahnauffahrt verwechselt?»
«Bei Unfällen mit Personenschaden wird routinemäßig auf Blutalkohol getestet», erklärte Manfred Kolber, auf die Verwechslung ging er gar nicht ein. «Dem Ergebnis der Untersuchung möchte ich nicht vorgreifen.»
«Natürlich nicht», sagte Karola und tat es für ihn. «Frau Weißkirchen, was hat Heidrun Merz gestern Abend getrunken?»
«Einen Schluck Sekt nach der Lesung», antwortete Marlene wahrheitsgemäß, aber nun auf Vorsicht bedacht. «Es war nicht mal ein halbes Glas. Bei der Lesung und beim Essen trank sie nur Mineralwasser, weil sie noch fahren musste. Und mein …»
Den Rest verschluckte sie im allerletzten Moment.
Mein Mann hat keinen Alkohol erwähnt,
hatte sie sagen wollen. Doch das bedeutete ja nicht, dass Werner keinen Schnaps gerochen hätte. Und nur der Himmel wusste, was Karola daraus machte,wenn sie erklärte, Werner sei an der Unfallstelle gewesen und habe sich um die Schwerverletzte bemüht, weil er fand, man dürfe keinem Menschen beim Sterben einfach nur zusehen.
Karola nickte auffordernd, als sie so plötzlich abbrach, und bedeutete ihr mit einer Geste, weiterzusprechen. Sie winkte ab.
«Einen Schluck Sekt und Mineralwasser», wiederholte Karola daraufhin. «Das kann ich bestätigen. Ich war ebenfalls dabei, wollte es mir nicht nehmen lassen, diese großartige Frau persönlich kennenzulernen und ihr meine Bewunderung auszusprechen für ihren Mut, den Mann herauszufordern, der ihre Schwester und höchstwahrscheinlich sechs weitere Frauen auf bestialische Weise getötet hat. Es war Heidrun Merz bewusst, dass sie in Gefahr schwebte. Doch davon ließ sie sich nicht aufhalten.»
Karola versprach ihren Hörerinnen und Hörern nach der nächsten Musik einige Rätsel und Widersprüche, betätigte einen der Regler und fragte: «Was wolltest du eben noch sagen?»
«Nichts was hierhergehört», erklärte Marlene bestimmt.
Sie war immer noch wütend und überlegte, wie sie die Sache mit der Freundschaft berichtigen könnte, ohne Karola vor ihrer Zuhörerschaft bloßzustellen. In Gegenwart des Pressesprechers der Polizei mochte sie allerdings nicht energisch auf eine Richtigstellung drängen. Das hätte Karola in den Augen dieses Mannes doch unmöglich gemacht. Lieber las sie noch ein Stück.
Seite zweiundfünfzig begann mit einem Datum:
20. April 2006
Es ist kurz vor Mitternacht. Ich kann nicht schlafen. Mit meiner Konzentration ist es auch nicht weit her. Aber ich sollte zumindest versuchen, einen denkwürdigen Tag festzuhalten. Heute Mittag dachte
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