Der Frauenjäger
schüchtern sah er nicht aus, im Gegenteil. Er sah aus wie ein Krokodil im Wasserloch der Gazellen.
Ich betrat die Arkaden wieder von der Schadowstraße aus. Er war immer noch hinter mir, aber er war ein wenig in der Menge zurückgeblieben. Ich ging geradewegs zu den Parkdecks. Er folgte. Zwischen den Wagen verlor ich ihn sekundenlang aus den Augen. Dann sah ich ihn wieder, er stieg auf ein Motorrad und setzte einen schwarzen Integralhelm auf.
Was ich in dem Augenblick fühlte, lässt sich schwer beschreiben. Es zählt eigentlich nur, dass ich etwas fühlte und dass ich wusste, was soeben geschah. Zwei Fremde spielten das Spiel des Lebens, bei dem man nie weiß, wer am Ende der Gewinner ist. Irgendein Mann trifft irgendeine Frau. Und kurze Zeit später kann der Mann ein Liebhaber sein oder ein Mörder.
Er wollte mich nicht lieben, das wusste ich, sonst hätte er längst einen Annäherungsversuch unternommen und nicht diesen Helm aufgesetzt, der es unmöglich machte, festzustellen, wen oder was er beobachtete. Er war das Krokodil und ich die Gazelle. Er näherte sich mit unmerklichen Bewegungen dem Ufer, lauerte unter der Wasseroberfläche und wartete auf den Moment, in dem ich durstig meinen Kopf hinunterbeugte, um mich zu packen und ins Trübe zu ziehen.
Ich hätte niemandem erklären können, was mich so sicher machte. Ich wusste es eben, vielleicht nur aus einem Grund: Als ich die Wohnung verlassen hatte, war mir nicht nach Liebe gewesen.
Ich hätte den Tod begrüßt wie einen guten Freund. Nun war dieser Freund hinter mir.
Es sind immer dieselben Gedanken, die mich hinaustreiben. Das Schlimme daran ist, zu wissen, dass ich nicht wirklich sterben will. Ich will es ebenso wenig wie die Gazelle am Wasserloch. Nur meinen Durst nach Leben will ich löschen. Oder Josch bestrafen, weil er nie da ist, wenn ich ihn brauche.
Als ich das Parkhaus verließ und im Rückspiegel das Motorrad hinter mir sah, war alles anders. Wenn der Mann mir folgte, weil er in mir ein Opfer sah, müsste Josch sich fragen, warum er nicht bei mir war, als ich meinem Mörder begegnete. Quälen müsste er sich mit dieser Frage und irgendwann begreifen, dass er seinen Beruf mehr geliebt hatte als mich. Dass er erst begann, mich zu lieben, als er mich verloren hatte.
Nach drei weiteren Musiktiteln erzählte Karola ihrer Zuhörerschaft von der unerklärlichen Tatsache, dass sich Heidrun Merz’ Unfall an der Kiesgrube erst anderthalb Stunden nach ihrem Aufbruch aus dem Restaurant ereignet hatte. Sie beschrieb den Peugeot von Heidrun Merz, nannte eine Telefonnummer und die E-Mail -Adresse, unter der Beobachtungen gemeldet werden sollten, und schloss mit dem Hinweis, dass auch scheinbar Unbedeutendes im Zusammenhang mit dem silbergrauen Peugeot wichtig sein könnte. Dann gab es wieder Musik.
Manfred Kolber schaute auf die Wanduhr und erhob sich. «Wenn Sie mich nicht mehr brauchen, Frau Jäger. Ich muss …»
Karola bedeutete ihm mit einer Geste, sich wieder zu setzen, und wollte wissen, wie viele vermisste Personen es derzeit im Kreis gab. Als er nur vage die Achseln anhob, lächelte Karola spöttisch. «Sie brauchen keine genaue Zahl und keine Namen zu nennen. Erzählen Sie nur etwas über das Vorgehen der Polizei, wenn ein Erwachsener verschwindet. Sonst tu ich es.»
Dann ließ sie sich darüber aus, wie es ihr vor dreieinhalbJahren nach dem Verschwinden ihres abenteuerlustigen Gatten ergangen war. Manfred Kolber geriet zunehmend in Verlegenheit, weil er damals einer der Kriminalbeamten gewesen war, die Karola zwar die Meinung gesagt, sonst aber nicht viel unternommen hatten.
Marlene blätterte währenddessen zur Seite achtundsiebzig. Noch ein Tagebuchauszug, diesmal vom 24. Mai 2006. Den ersten Zeilen war zu entnehmen, dass es ein Mittwoch und Mona wieder in den Schadow Arkaden gewesen war. Gazellen trieb es ja auch immer wieder zum Wasserloch. Gegen drei Uhr nachmittags hatte das Scheusal sie angesprochen.
Viel weiter kam Marlene nicht, das Datum ließ ihre Gedanken rasch abschweifen. Der 24. Mai war Werners Geburtstag. Und sie erinnerte sich noch lebhaft, wie Karola vor dreieinhalb Jahren mit ihren Mädchen gekommen war, um zu gratulieren und zu Abend zu essen.
Andreas war seit gut einer Woche auf Tour und Werner noch nicht daheim gewesen. Bis er kam, hatten sie über diesen nicht angekündigten Urlaub gesprochen, hinter dem Karola einen Ausflug mit der jungen Nachbarin vermutete. Barbara König. Den Namen hatte
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