Der Frauenjäger
vorstellen konnte, vollkommen unbelastet von Schadstoffenund Umweltgiften. Oder Wasserfälle, die von hoch oben heruntertosten und in kleine Seen oder Kessel platschten. Und Wasseradern, die normalerweise kleine Rinnsale waren und unvermittelt zu reißenden Strömen anschwollen, wenn es oben regnete, was man unten nicht mitbekam.
Da konnte ein Kriechgang schnell zur tödlichen Falle werden. In der einen Sekunde hörte man noch ein Rauschen, das rasch zum Dröhnen anschwoll. Und ehe man sichs versah, wurde man von der Flut weggerissen, in unterirdischen Kammern vom Wasser eingeschlossen, oder es wurde einem der Rückweg abgeschnitten, und man ertrank.
Ertrinken wollte sie nicht, verdursten noch weniger. Und allein die Vorstellung, dass es in ihrer Nähe eine Quelle, einen Wasserfall oder ein Rinnsal gab, dass sie das Wasser zwar hörte, aber nicht fand, weil sie nichts sah. Und weil das verfluchte Lied verhinderte, dass sie lange genug hinhören konnte, um die Richtung auszumachen und gezielt dorthin zu kriechen …
14. Januar 2010 – Donnerstagvormittag
Während Marlene mit merklich gerötetem Gesicht die Szene auf der Autobahn und die Raststättenepisode las, hielt Karola dem Pressesprecher der Polizei einen Vortrag über den gesunden Menschenverstand, der einem sagte, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen sein konnte, wenn Heidrun Merz anderthalb Stunden nach ihrem Aufbruch, aber nur vier Kilometer entfernt verunglückte.
«Das war kein Unfall», erklärte Karola nachdrücklich. «Frau Merz hat einen ziemlichen Wirbel veranstaltet, um den Mörder ihrer Schwester nervös zu machen. Das ist ihr gelungen. Sie wurde in den letzten Wochen massiv bedroht. Erkundigen Siesich bei der Kripo Düsseldorf, Herr Kolber. Die hatten eigens einen Mann abgestellt, um einen Zwischenfall bei der gestrigen Lesung zu verhindern.»
Wie Karola – auch noch von einem Irrtum in Bezug auf Fischer ausgehend – die Tatsachen verdrehte, war phänomenal. Marlene hätte den Ausdruck «provozieren» treffender gefunden.
Manfred Kolber runzelte ungläubig die Stirn. «Wenn es eine konkrete Gefahr für die Frau gab, warum wurde ihr dann nicht von derartigen Veranstaltungen abgeraten?»
«Das hat man», behauptete Karola. «Man hat noch mehr getan. Man hat versucht, sie öffentlich zu diskreditieren, indem man durchblicken ließ, dass auch ihr Schwager als Täter in Frage käme. Aber es gibt sechs weitere Fälle mit verblüffenden Parallelen in NRW. Sechs Frauen, die nichts mit Josch Thalmann zu tun hatten. Also kann man ihn als Täter wohl ausschließen.»
Ehe Manfred Kolber darauf reagieren konnte, hob Karola wieder den linken Arm. Gedämpft hörte Marlene die letzten Klänge ihres Vorschlags aus dem Kopfhörer, den Karola immer noch nur gegen ein Ohr drückte.
«As she rode along through Paris with the warm wind in her hair.»
Die ersten vier Minuten waren um. Karolas Arm schlug nach unten. Sie sprach mit ihrer weichen, einschmeichelnden und dem Anlass entsprechend leicht belegt klingenden Stimme ins Mikrophon: «Gestern um diese Zeit habe ich Sie auf eine Lesung mit der bekannten Autorin Heidrun Merz aufmerksam gemacht. Wer meinem Rat gefolgt ist, hat einen Abend voller Spannung erlebt und vielleicht daheim noch einige Seiten aus
Monas Tagebuch
verschlungen. Seit dem Verschwinden ihrer Schwester im Juli 2006 kämpft Heidrun Merz um die Wahrheit und den Beweis, dass Mona Thalmann Opfer eines grausamen Verbrechens wurde. Nun müssen wir befürchten, dassihr Kampf Heidrun Merz das Leben kostet. Bei mir im Studio sitzt der Pressesprecher unserer Polizei, Manfred Kolber.»
Manfred Kolber hatte offenbar Erfahrung. Ohne dass Karola ihn auffordern musste, beugte er sich zu dem zweiten Mikrophon vor und sagte: «Guten Morgen.»
Karola sprach weiter: «Und Marlene Weißkirchen, die gestern Abend dabei war – bis zur letzten Minute. So kann man sagen, nicht wahr, Frau Weißkirchen?»
Abgesehen davon, dass es für Marlene ungewohnt war, von Karola als Frau Weißkirchen angesprochen zu werden, wunderte sie sich nur ein bisschen. Karola sprach, als gebe es noch Hoffnung für Heidrun Merz. Aber angesichts der Tatsache, dass die gepiercte Blondine gesagt hatte, es sei noch nicht offiziell … Es wäre pietätlos und sensationslüstern gewesen, eine nur durch Beziehungen erhaltene, nicht offizielle Auskunft in die Welt hinauszuposaunen, ehe die Angehörigen davon wussten. Pietätlos war der Lokalsender nie, im Vergleich mit
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