Der Frauenjäger
Finsternis gar nicht zu bewältigen.
Und auch mit einer Taschenlampe in einer Hand und einer betäubten Frau über der Schulter lief man nicht weiter als unbedingt nötig. Selbst wenn er beide Hände frei gehabt und die Beleuchtung am Kopf befestigt hätte – einen Grubenhelm oder ein Stirnband mit LE D-Lampe , wie Jogger sie bei Dunkelheit trugen –, auf derart unebenem Boden reichte ein falscher Tritt. Man war schnell mit einem Fuß umgeknickt, hatte sich einen Knöchel verstaucht, eine Sehne gezerrt, ein Bein gebrochen.
«Ich werde sterben …», stammelte die gequälte Frauenstimme wieder in ihrem Hinterkopf.
«Ich nicht», krächzte sie mit trockener Kehle. «Ich komme hier raus, und dann werde ich denen was erzählen.» Das Sprechen tat im Hals weh, aber gleichzeitig tat es gut, sich selbst auf die Weise Mut zu machen.
Geschleift worden war sie nicht. Sonst hätte ihr jetzt vermutlich alles wehgetan und ihre Kleidung in Fetzen heruntergehangen. Wahrscheinlich hatte er sie ein Stück gefahren – in einer Schubkarre, einem Bollerwagen oder auf so einem praktischen Einkaufswagen für sperrige Gegenstände, wie Baumärkte sie für die Kundschaft bereithielten. Es war nicht mehr als eine stabile Holzplatte mit vier Rollen darunter und einer Griffstange zum Schieben oder Ziehen. Damit hatte Werner damals Unmengen von Holz und anderen Materialien fürs Haus transportiert. Diese Wagen hatten gegenüber den anderen einen entscheidenden Vorteil. Man musste schwere Lasten nicht unnötig hochheben.
Doch auch mit so einer Karre holperte man nicht eine längere Strecke über Stock und Stein. Man brauchte einen einigermaßen befahrbaren Weg. Wenn sie bei der Kuhle das nächste Hölzchen anriss, sah sie wahrscheinlich Spuren, die ihr entschieden weiterhalfen als ein Schluck Wasser.
14. Januar 2010 – Donnerstagnachmittag
Weil Karola noch Besorgungen machen wollte, fuhren sie zu einem großen Einkaufspark. Das Gulasch, zu dem Karola sie dort einlud, war das einzige Gericht im Angebot einer kleinen Imbissstube und entsetzlich scharf. Es gab nur ein Brötchen dazu. Marlene brauchte zwei Gläser Wasser und lehnte den angebotenen Nachschlag dankend ab, obwohl der im Preis inbegriffen war. Ein zweites Brötchen wäre ihr lieber gewesen.Karola nahm noch eine Kelle und ließ sich zwei Dosen zum Mitnehmen an den Tisch bringen, damit sie es nicht vergaß.
Beim Essen ließ Karola sich – wie nicht anders zu erwarten – noch einmal ausführlich über Barbara König aus. Sie wunderte sich, dass Barbaras Mann sie noch nicht vom erneuten Verschwinden seiner Angetrauten in Kenntnis gesetzt hatte.
«Vor dreieinhalb Jahren kam er gleich angerannt und wollte wissen, ob ich eine Ahnung hätte, wo die beiden stecken könnten. Er schwor Stein und Bein, dass Barbara etwas mit Andreas hatte. So bin ich ja überhaupt erst auf die Idee gekommen.»
Das hörte Marlene nicht zum ersten Mal. Um Karola zu zeigen, dass sie es nicht mehr hören konnte, konzentrierte sie sich auf das Brennen im Mund und blätterte in dem Taschenbuch, das Manfred Kolber im Studio zurückgelassen und sie mitgenommen hatte. Es gehörte Karola, wie die Widmung zeigte. Die Handschrift auf der ersten Seite versetzte ihr einen Stich und führte ihr erneut vor Augen, wie schnell ein Leben ausgelöscht war.
Ihre Methode funktionierte. Karola warf ebenfalls einen Blick auf den Namenszug, brach ihren Monolog vom verschollenen Abenteurer und seiner mutmaßlichen Gespielin aus der Nachbarschaft ab und meinte: «Scheiße, was? Wieder ein Heimkind mehr. Ich glaube kaum, dass Josch Thalmann den Kleinen mit ins Cockpit nehmen darf.»
«Was ist denn mit dem Vater des Jungen?», fragte Marlene. «Auch wenn Frau Merz nicht mit dem Mann verheiratet war, könnte der sich doch um seinen Sohn kümmern.»
Karola schüttelte den Kopf. «Der ist schon unter der Erde. Er hatte wohl ein kleines Problem mit seiner Potenz. Sie war im vierten Monat schwanger, als er sich …» Statt es auszusprechen, strich Karola sich mit einer Handkante über die Kehle.
«Er hat sich umgebracht?», fragte Marlene betroffen. «Nur weil er keinen hoch …»
Wieder schüttelte Karola den Kopf und grinste flüchtig. «Es war ein Unfall, aber ein pikanter. Der Idiot hat sich ein Stück Gardinenschnur um den Hals gelegt, um sein bestes Stück in Form zu bringen. Angeblich steht so ein Ding wie eine Eins, wenn man keine Luft mehr bekommt. Sie war unter der Dusche, kam fünf Minuten zu spät ins
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