Der Frauenjäger
nicht abgeräumte Frühstückstisch, die ungemachten Betten, zwei benutzte Bäder, möglicherweise ein paar Staubflusen auf Fußböden und Schränken und Werners Anzug. Denkonnte sie auch um halb fünf noch in die Reinigung bringen. Dann waren die Kinder garantiert daheim, und sie müsste wegen einem Hausschlüssel nicht den Unterricht am Gymnasium stören.
Neugierig war sie auch, wie weit Karola ihren privaten Thriller ausbaute. Im Stillen bewunderte sie die schauspielerische Leistung, die dabei an den Tag gelegt wurde. Karola gab sich bedrückt wie ein Mensch, der seit langen Jahren ein furchtbares Geheimnis mit sich herumtrug, das längst hätte offenbart werden müssen.
Das erste Mal im Lörsfelder Busch, wildromantisch in freier Natur. So hatte sie es damals dargestellt. Wo sollte man einen Abenteurer auch sonst das erste Mal an die Wäsche lassen?
«Unmittelbar neben einem Ameisenhaufen», sagte Karola nun. «Er hatte die Stelle bei Tag ausgesucht, schätze ich. Ich habe im Dunkeln natürlich nichts gesehen. Als die Biester sich über mich hermachten, kam er so richtig in Fahrt. Nachher sagte er, er hätte gedacht, dass ich mich vor lauter Leidenschaft winde und stöhne. Ich war völlig zerstochen oder zerbissen. Vielleicht erinnerst du dich, ich hab’s euch gezeigt. Das war schließlich etwas, damit konnte keine von euch dienen.»
«Ja», sagte Marlene nur.
Und Karola erzählte weiter. Andreas hätte ein Faible für Liebe an der frischen Luft gehabt. Stefanie sei in einem Rübenacker gezeugt worden, während über ihnen ein Gewitterregen niederging. «Zur Abwechslung durfte ich auf ihm sitzen. Blitze suchen sich ja bekanntlich den höchsten Punkt in der Umgebung. Ich habe ihn gefragt, ob er keine Angst hat, ebenfalls draufzugehen, wenn ich getroffen werde. Er lachte nur und zog mich runter. Daran musste ich gestern Abend denken, als Frau Merz sagte: ‹Wer sich für Gott hält, hält sich für unsterblich.›»
Karola schob weitere, angeblich dringende Besorgungen vor, um noch mehr Horrorgeschichten zum Besten zu geben. Zum Beispiel die Sache in der Kiesgrube – ja, in genau der Grube, an deren Zufahrt Heidrun Merz letzte Nacht verunglückt war.
«Damals war das Gelände komplett umzäunt und über Nacht durch einen Schlagbaum abgesperrt. Aber der war nicht gesichert. Andreas schob ihn hoch, und wir waren drin. Er wollte meine Nerven testen. Für die geplante Wüstentour. Zu der Zeit wollte ich ja noch unbedingt mit. Es war saukalt in der Nacht, nur sechs oder sieben Grad. Ich musste mich trotzdem ausziehen bis auf die Haut. Er fesselte mir die Hände an den Kühlergrill des Jeeps, setzte sich auf einen Stein und rauchte erst mal eine. Dabei erzählte er mir, es wäre möglich, dass man in der Wüste herumziehenden Banditen in die Hände fiele. Als Frau würde man dann vergewaltigt, nicht nur von einem. Er wollte wissen, wie viel ich aushielt. Kannst du dir denken, wie es weiterging? Oder soll ich’s erzählen?»
Das war nicht nötig, Marlenes Vorstellungskraft reichte.
Sie schlenderten weiter durch einige Läden. Karola kaufte hier eine Tube Zahncreme, da ein Päckchen Kaffee, dort eine Strumpfhose und phantasierte, was das Zeug hielt, bis Marlene schließlich fragte: «Warum hast du ihn überhaupt geheiratet, wenn er von Anfang an so war? Nur weil du schwanger geworden bist?»
«Nein.» Karola lachte wehmütig. «Weil ich verrückt nach ihm war. Weil ich ihn toll fand. Weil er mir etwas bot, was ich bis dahin nicht erlebt hatte: Nervenkitzel. Warum binden Leute sich Gummiseile um die Fußknöchel und lassen sich von Brücken fallen? Warum kraxeln sie ohne Sauerstoffgerät auf hohe Berge? Andreas war mein Bungee und mein Mount Everest, verstehst du? Er war Adrenalin pur. Es war wahnsinnig aufregend mit ihm. Ich wusste nie, was ihm als Nächstes in den Sinn kam. Es ist wirklich so, wie Mona schrieb. Richtig lebendig fühltman sich erst, wenn man mit seinem Leben spielt oder andere damit spielen lässt. In welche Falle man sich manövriert, merkt man erst, wenn man nicht mehr rauskommt. Ich wette, Mona hat es erst gemerkt, als sie mit gebrochenem Bein am Boden lag und ihr ein Mikro oder ein Diktiergerät unter die Nase gehalten wurde für den letzten Gruß an die Lieben daheim.»
Während Marlene einen Januskopf vor sich sah, vorne den Robert-Redford-Verschnitt mit dem Dackelblick und hinten eine abstoßende Fratze, resümierte Karola: «So sind die Kerle eben.»
«Das kannst du doch nicht
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