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Der Frauenjäger

Der Frauenjäger

Titel: Der Frauenjäger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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neun
    Nach sieben Balladen, geschätzten achtundzwanzig Minuten, hatte noch nichts «gerödelt.» Es waren nur weitere Erinnerungen aus dem Nebel gestiegen. Drei weitere Durchläufe summte Marlene mit, um nicht die Nerven zu verlieren und weil sie das Gefühl hatte, so verginge die Zeit ein wenig schneller. Dann waren etwa vierzig Minuten um und alle zehn Finger im Einsatz gewesen. Vielleicht war es doch eine Zwei-Stunden-Kassette.
    Als Marianne Faithfull aufs Neue begann, schloss Marlene beide Hände wieder zu Fäusten, spreizte den Daumen der linken ab. Elf. Dann kam der linke Zeigefinger hoch. Zwölf. Der linke Mittelfinger. Und so weiter. Als sie die Finger der rechten Hand dazu nehmen musste, machte sich die Hoffnung auf Wasser in absehbarer Zeit wieder aus dem Staub.
    Das schwache Rauschen in den kurzen Pausen veränderte sich nicht, weil sie ihre Position nicht veränderte, das war ihr wohl klar. Und solange sie die Musik nicht abstellen konnte, konnte sie nicht feststellen, ob das Geräusch ebenfalls von einem Band kam. Irgendwann würde dem Ghettoblaster der Saft ausgehen, weil auch sehr leistungsfähige Batterien irgendwann schlappmachten. Aber bis dahin konnten noch einige Stunden vergehen.
    Ihr schwebte eine Kompanie von Osterhasen vor Augen, die mit Kiepen voller Schokoladeneier auf den Rücken vorwärtsmarschiertenund dabei auf kleine Trommeln schlugen. Einer nach dem anderen blieb stehen. Nur der Letzte, der lief und lief und lief und trommelte unermüdlich weiter.
    Nach weiteren zwölf Minuten, in denen sie auf eine längere Pause wartete und in den kurzen angestrengt horchte, angelte sie das zweite Klümpchen aus ihrer Jackentasche, wickelte es ebenso behutsam wie das erste aus dem Cellophan und nahm es zwischen die Lippen, nachdem sie das Steinchen in die hohle Hand gespuckt hatte.
    Sie gierte unverändert nach Wasser, doch der Durst war nicht mehr so unerträglich wie nach dem Pfefferminzbonbon mit dem weichen Kern. Das Steinchen hatte ihr ein wenig Erleichterung verschafft. Deshalb wickelte sie es ins leere Cellophan und steckte es in die Jackentasche, damit sie bei Bedarf kein neues suchen und notdürftig säubern musste. Dieses war jedenfalls sauber.
    Das zweite Bonbon schmeckte säuerlich. Sie brauchte ein paar Sekunden, ehe sie den Geschmack identifiziert hatte. Cola. Auch wenn es vermutlich mehr Chemie als sonst etwas war, mobilisierte es einige Lebensgeister, die sich bisher hinter Kopfschmerzen, Übelkeit, Furcht und Ratlosigkeit versteckt gehalten hatten.
    «Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.» Den Spruch hatte ihre verstorbene Großmutter häufig benutzt. An Gott glaubte sie nicht, an sich selbst auch nicht wirklich. Bisher hatte sie nichts Großartiges geleistet und noch nie für sich selbst kämpfen müssen. Aber sonst schien ja keiner in der Nähe zu sein.
    Sie wägte ihre Möglichkeiten ab: In der Hoffnung auf Wasser weiter ins Ungewisse zu kriechen hielt sie für sinnlos und gefährlich. Wer wusste denn, wo sie hingeriet? Oder wo sie nicht mehr weiterkonnte, weil sie völlig entkräftet war?
    Man musste Prioritäten setzen, sagte Werner oft. Bisher hatte sie sich von ihrem unmittelbaren Bedürfnis zu trinken leitenlassen. Mit dem Colageschmack auf der Zunge und der Illusion von Koffein im Blut gewann ihr Verstand die Oberhand. Natürlich wäre es wichtig gewesen, den Durst zu löschen. Aber viel wichtiger war etwas anderes: Raus aus dem schwarzen Loch.
    Wahrscheinlich war es ein großer Fehler gewesen, die kleine Mulde zu verlassen, ehe sie ihre Sinne einigermaßen beisammengehabt hatte. Wenn es ein Scherz war – ein bitterböser, hundsgemeiner, grausamer Scherz, genau genommen eine Strafaktion, so wie man früher die kleinen Kinder in den dunklen Keller gesperrt hatte   –, musste der Mistkerl irgendwann zurückkommen, um sie wieder abzuholen. Und wenn er sie nicht mehr dort fand, wo er sie vermutete   …
    Sie fragte sich, wie lange er sie wohl hier unten schmoren lassen wollte. Eine Antwort darauf fand sie nicht. Aber von der Kuhle aus musste es einen Weg hinaus geben, denselben Weg, auf dem sie hereingebracht worden war.
    Durch einen Kriechgang geschoben oder abgeseilt worden war sie garantiert nicht. Es musste einen größeren Ein- und Ausgang geben. Dass sie eine längere Strecke getragen worden war, hielt sie auch nicht für wahrscheinlich. Sie wog zwar nur achtundfünfzig Kilo. Aber selbst für einen Herkules wäre das hier unten eine heikle Sache gewesen, in totaler

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