Der Frauenjäger
geben ihm etwas, damit er schläft. Wenn er aufwacht, tobt er. Er will sein Bein zurück, der dumme Junge. Ulla war heute Morgen bei ihm und sagte, sie fährt nicht mehr hin. Mit dem Bus dauert es ewig, jedes Mal ein Taxi ist nicht drin. Soll Matthias sich doch beschimpfen und verfluchen lassen. Der hat ihm den Autoschlüssel ja auch hingelegt. Magst du einen Kaffee? Ich hab welchen fertig.»
Eigentlich nicht. Wenn sie so spät noch Kaffee trank, hatte sie
Monas Tagebuch
morgen früh garantiert ausgelesen. Aber ablehnen mochte Marlene auch nicht. Frau Schweren schob sie vorwärts zum Wohnzimmer. Dort saß die kleine Meike im Schneidersitz auf dem Fußboden vor dem Fernseher. Über den Bildschirm flimmerte eine Sendung auf dem Kinderkanal. Meike lächelte ihr unsicher entgegen.
«Hallo, Spatz», grüßte Marlene das Kind und nahm in einem der beiden Sessel Platz. «Geht’s dir gut?»
Meike nickte. «Nur Thomas ist krank. Er hat jetzt bloß noch ein Bein. Und Oma weint immer, Papa hat gestern auch geweint.»
«Ja», seufzte Marlene. «Sie machen sich halt große Sorgen um Thomas und sind traurig, weil er ein Bein verloren hat.»
Ullas Mutter kam mit einem Tablett aus der Küche, stellte Geschirr, Milchgießer, Zuckerdose und eine Isolierkanne auf den Couchtisch und wies das Kind an: «Mach das aus, Schatz.»
Meike gehorchte sofort, verließ den Raum, kam aber nach ein paar Minuten mit einem Malbuch und einer Hand voller Stifte zurück. Sie hatte wohl Angst, etwas zu verpassen, legte sich bäuchlings auf den Fußboden und begann eine Vorlage im Buch auszumalen.
In der Zwischenzeit hatte Frau Schweren sich mehrmals miteinem feuchten, zerknüllten Papiertaschentuch die rotgeweinten Augen gewischt und die Tassen gefüllt. Der Kaffee war wohl schon länger fertig, nur noch lauwarm und so stark, dass er auf der Zunge klebte. Marlene goss viel Milch dazu und nahm drei Löffel Zucker, während Ullas Mutter stockend aussprach, was sie wirklich auf dem Herzen hatte.
Es ging nicht um Thomas. Der hatte sich sein Elend selber zuzuschreiben. Das rechte Bein war nicht nur mehrfach gebrochen gewesen wie das linke. Der Knochen war oberhalb des Knies zertrümmert, Muskeln und Sehnen vom Motorblock zerquetscht worden. Die Ärzte hatten getan, was in ihrer Macht stand, um das Bein zu erhalten. Als sich abzeichnete, dass alle Mühe vergebens gewesen war, hatten sie mit ihrem Drängen zur Amputation Thomas zweifellos das Leben gerettet. Doch Ulla wurde nicht fertig damit, dass sie die Zustimmung hatte geben müssen, weil Matthias sich außerstande sah, solch eine Entscheidung zu treffen.
«Gestern habe ich gedacht, sie kommt gar nicht mehr nach Hause», erzählte Frau Schweren. «Es war fast Mitternacht, als endlich die Haustür ging. Vorgestern war es auch so spät. Das sind keine Überstunden, Marlene. Mir kann sie nichts vormachen. Es wird ihr alles zu viel. Sie sagt nichts. Das hat sie nie getan. Sie vergräbt sich im Büro, da hört und sieht sie nichts. Abends ist sie da doch ganz alleine. Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, gar nicht wohl, Marlene. Ich hab Angst, dass sie sich etwas antut. Einmal ist alle Kraft verbraucht, dann bricht auch die Stärkste zusammen. Und so stark ist sie doch gar nicht, das war sie nie. Sie tut nur so.»
Länger als eine Stunde saß Marlene in dem Sessel, nippte hin und wieder an dem viel zu starken, kalten, aber wenigstens süßen Kaffee und hörte sich an, was sie seit Jahren wusste. Dass Ulla mit allem alleine dastand und Matthias ein Fass ohne Boden war, nicht nur finanziell, auch in Gefühlsdingen.
«Sie hätte ihn vor Jahren verlassen müssen», sagte Ullas Mutter und betrachtete das malende Kind auf dem Fußboden. «Als er das Sportgeschäft in den Sand gesetzt hat. Wir beide mit den Kindern, das wäre besser gewesen. Ich hätte auch den Jungen zur Fasson gebracht, das kannst du mir glauben. Matthias hat mir doch stets und ständig dazwischengefunkt. Wenn ich hü sagte, sagte er hott. Er wusste immer am besten, wie man einen Sohn erzieht, schließlich war er der Mann von uns beiden. Was bei seiner Methode herausgekommen ist, kannte kein Maß und kein Ziel und geht jetzt als Krüppel durchs Leben.»
«Kann ich irgendetwas tun?», fragte Marlene.
Eine Antwort bekam sie nicht, die alte Frau schien ihre Frage gar nicht gehört zu haben. Wie im Selbstgespräch fuhr sie fort: «Sie reden nicht mehr miteinander. Am Dienstag haben sie gestritten wie die Kesselflicker. Sie hat ihm all das an
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