Der Frauenjäger
den Kopf geworfen, was schon längst einmal hätte gesagt werden müssen. Und seitdem …», sie schüttelte den Kopf und atmete zittrig durch, «… kein Wort mehr.»
Marlene wiederholte ihre Frage, diesmal nickte Ullas Mutter. «Fahr zu Scheidweber. Tust du das? Sag ihr, sie soll nach Hause kommen. Sag ihr, dass wir sie brauchen, Meike und ich.»
«Mache ich», versprach Marlene.
Nummer neun
Wasser! Dieses Plätschern und Gurgeln! Es musste Wasser in ihrer Nähe sein. Oder – der Gedanke kam ihr zum ersten Mal – hatte der Mistkerl womöglich die Geräuschkulisse einer Miniaturstromschnelle aufgenommen und mit unterschiedlichen Lautstärken in die kurzen Pausen zwischen die Balladen kopiert? Das wollte sie einfach nicht glauben.
Was nun? In der nächsten Pause noch einmal versuchen, die Richtung, aus der die Geräusche kamen, genauer zu bestimmen? Rechts war ziemlich vage, es erstreckte sich über die gesamte Schwärze zu ihrer Rechten. Und selbst wenn sie Erfolg hätte, wer wusste denn, wie viele Hindernisse es auf dem Weg zum Wasser gab? Ob sie alle überwinden könnte, wie oft sie die Richtung wechseln musste und das Plätschern vielleicht wieder aus den Ohren verlor? Und sie wollte doch Prioritäten setzen.
Also weiter dem entschärften Weg folgen bis zu der Kuhle. Dort das zweite Zündholz anreißen. Und den Weg ins Freie entdecken! Vielleicht war es ursprünglich so beabsichtigt gewesen. Vielleicht hätte sie unmittelbar nach dem Aufwachen in ihre Jackentaschen greifen und das Zündholzbriefchen finden sollen. Vielleicht hatte sie mit ihrem unerwarteten Aufbruch seine Pläne über den Haufen geworfen, ihren Aufenthalt in der Schwärze nur unnötig verlängert und ihn gezwungen, ihr zu folgen, damit sie hier unten nicht verloren ging. Vielleicht versuchte er jetzt, sie vor sich her zum Ausgang zu treiben. Vielleicht!
Augenblicklich war das grüne Glimmen nicht auszumachen. Aber der Mistkerl musste nur hinter einem größeren Felsbrocken in Deckung stehen oder das Lämpchen mit einer Hand abdecken, um wieder vollkommen unsichtbar zu sein.
Sie war nahe daran, ihre Theorie laut auszusprechen und ihn um ein Zeichen für richtig oder falsch zu bitten. Aber sie ließ es bleiben, kroch einfach weiter. Nachdem sie ihn eben beleidigt hatte, war er vermutlich sauer und würde ohnehin nicht reagieren.
Es verging vielleicht eine halbe Stunde, da griff ihre linke Hand zum ersten Mal ins Leere. Der Graben! Die Musik war inzwischen wieder lauter geworden. Sie kümmerte sich nicht darum, wollte sich nicht den Kopf über ein Phänomen zerbrechen,für das es wahrscheinlich eine simple Erklärung gab, auf die sie nur gerade nicht kam.
Der gegenüberliegende Grabenrand war gut zu erreichen, sie musste dafür nicht einmal den Arm völlig ausstrecken. Aber sie zögerte. Was sie zuvor in ihrer Benommenheit relativ problemlos bewältigt hatte, erschien ihr mit einigermaßen klarem Kopf ein riskantes Unterfangen. Zuerst mussten beide Hände auf die andere Seite. Dort musste sie herumtasten, um ihre Spur zu finden. Dabei würde sie wie eine Brücke über dem Spalt hängen, von dem sie nicht wusste, wie tief er war. Dann musste sie das erste Bein nachziehen. Und wenn sie dafür nicht sofort festen Halt fand …
Und wenn der Mistkerl in ihrer Nähe war, ein Video drehte, einen Wärmebildfilm, würde sie die Heimkinoshow um ein weiteres Highlight bereichern. Den Gefallen wollte sie ihm – und seinem Auftraggeber – auf keinen Fall tun. Sie musste zügig auf die andere Seite wechseln, ohne Angst zu zeigen.
Während sie auf die nächste Pause wartete, suchte sie einen faustgroßen Stein. Als die letzten Töne verklungen waren, horchte sie zuerst einen Moment in die Tiefe. Es gluckerte, gluckste oder plätscherte da unten wirklich nichts. Sie ließ den Stein fallen und zählte die Sekunden: Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig. Bei fünfundzwanzig erfolgte das Geräusch des Aufschlags. Ganz schön tief, fand sie.
Andreas hatte mal erklärt, wie man mit dieser Methode eine Tiefe ausloten konnte. Aber wie viele Meter auf eine Sekunde kamen, hatte sie wieder vergessen.
14. Januar 2010 – Donnerstagabend
Es war schon kurz vor sieben, als sie wieder in ihren Van stieg. Ullas Mutter stand in der Haustür und winkte noch einmal. Und ihr ging das Stück aus
Monas Tagebuch
durch den Kopf, das sie vormittags im Studio gelesen hatte.
Allein im Universum.
Ob Ulla sich so fühlte? Spielte es denn eine Rolle, ob
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