Der Frauenjäger
Täuschung.
Andreas hatte mehr als zwanzig Jahre den alten Jeep gefahren und immer gesagt, den gäbe er nie her. Er war auch mit dem Museumsstück abgehauen. Und der Mann in der Werkhalle sprach von einem Motorrad – Maschine.
In der Halle klirrte es erneut, als sei ein Werkzeug auf den Betonboden gefallen. Ulla verlangte: «Jetzt nimm noch ein Stück Pizza. Du kannst doch von einem nicht satt sein. Ich hole uns noch einen Kaffee, einverstanden?»
Antwort bekam Ulla nicht. Der Lichtkegel veränderte sich nicht. Marlene hörte weder Schritte noch sonst etwas, das sie gewarnt hätte. Der Spalt in der Tür wurde unvermittelt größer. Ulla stand vor ihr und starrte sie an, ob erschreckt oder nur unangenehm überrascht, konnte Marlene nicht beurteilen.
«Na so was», sagte Ulla laut genug, um noch in zehn oder fünfzehn Metern Entfernung gut verstanden zu werden. «Was machst du denn hier, Marlene?»
«Nichts», stammelte sie. «Ich wollte nur … Ich dachte, ich sollte mal … Deine Mutter bat mich, dir zu sagen, dass sie und Meike dich brauchen. Es tut mir furchtbar leid, was mit Thomas ge …»
«Ja», unterbrach Ulla ihr Gestammel kühl. «Mir auch. Aber mit Lamentieren ändert man nichts, und er ist für geraume Zeit von der Straße. Es wird eine Weile dauern, ehe sie ihm eine Prothese anpassen können. Dann kommt die Reha. Den Ausbildungsplatz hier kann er vergessen. Vielleicht kann er es später nochmal probieren. Ich habe mit Herrn Scheidweber persönlich gesprochen. Wenn er sich nächstes Jahr nochmal bewirbt, wird er bevorzugt. Mehr konnte ich nicht für ihn tun.»
Ulla trat ins Freie, zog die Tür zu, griff nach Marlenes Arm und dirigierte sie zum Bürotrakt hinüber. Und es war wie am frühen Vormittag bei Karola: nicht mehr die Ulla, die Marlene seit der Schulzeit kannte, der sie stets ein wenig näher gewesen war als den beiden anderen, mit der sie in Katastrophenfilmen gezittert und bei Tragödien geweint hatte.
Die Ulla, die ihren Arm gepackt hielt, war kalt und distanziert, brauchte weder Trost noch die Gewissheit, nicht allein im Universum zu sein. Ihr Verhalten ließ nur einen Schluss zu: Sie wollte weg von dieser Werkhalle, in der ein Mann ein Motorrad reparierte, mit dem er die Karre einer besoffenen Kuh gestreift hatte.
Und vor wenigen Stunden hatte Karola Illustrierten-Horoskope vorgelesen. Unerwartete Konfrontation mit der Vergangenheit! Humbug natürlich! Horoskope waren Humbug!
«Soll ich dich mitnehmen?», bot Marlene an, als sie den Flachbau erreichten und Ulla einen Schlüssel zum Vorscheinbrachte, den sie bis dahin in der freien Hand verborgen gehalten hatte. «Oder musst du noch arbeiten?»
«Ich muss nur meinen Mantel und die Tasche holen», sagte Ulla und zeigte zu dem einsamen Herrenrad hinüber. «Aber wenn ich den Drahtesel hier stehenlasse, muss ich morgen früh auf Schusters Rappen zur Arbeit, das ist mir zu weit. Also danke für dein Angebot, aber ich …»
«Das Rad nehme ich auch mit», schnitt Marlene ihr hastig das Wort ab. «Das kriege ich bestimmt ins Auto. Ich hätte auch die Stereoboxen von Christoph darin untergebracht. Aber das war nicht nötig. Die Mädchen …»
Sie konnte kaum glauben, dass sie mit Ulla sprach, als sei alles in bester Ordnung. Auch wenn nur sinnloses Geplapper dabei herauskam. Die kleinen Lautsprecher aus Annettes Küche, drei erleichterte Mädchen, ein zerbrochenes Sektglas, Gott sei Dank eins von den billigen. Nur nicht fragen, wer der Mann in der Werkhalle war. So tun, als hätte sie den überhaupt nicht gehört. Und abhauen, Ulla mitnehmen, Ulla in Sicherheit bringen, obwohl das nicht nötig zu sein schien. Ulla benahm sich wahrhaftig nicht so, als schwebe sie in irgendeiner Gefahr.
Ullas Hand an ihrem Arm war wie ein Stück Eis. Ullas Finger spielten mit dem Schlüssel, in Ullas Gesicht regte sich nichts. Ihre Augen waren trübe wie das Wasserloch der Gazellen, in dem das Krokodil lauerte. Und sie waren nicht trübe aus Kummer um den Sohn, nicht rot geädert und verquollen vom Weinen wie die Augen ihrer Mutter. Die schwebenden Schmutzpartikel dicht unter der Oberfläche sollten nur den Blick in die Tiefe unmöglich machen und stürzten Marlene in ein Chaos sich überschlagender Gedanken und widersprüchlicher Gefühle.
Sie wollte das nicht denken, kam aber nicht dagegen an. Ihre Phantasie machte sich selbständig, weil es doch so schön passte, dass es einem regelrecht ins Auge sprang. Andy, der Jäger! Der auch
Weitere Kostenlose Bücher