Der Frauenjäger
man zerbrach, weil man nichts Sinnvolles zu tun hatte, oder ob einem von anderen so viel aufgebürdet wurde, dass man es nicht mehr tragen konnte?
Nachdem sie das enge Neubauviertel hinter sich gelassen hatte, brauchte sie auf der Umgehungsstraße nur vier Minuten bis zu Scheidweber & Co. Das Firmengelände sah verlassen aus. Der kleine Parkplatz vor dem Bürogebäude war leer – bis auf ein sportliches Herrenrad. Wahrscheinlich war Ullas Sohn noch letzte Woche damit zur Arbeit gefahren. Völlig sicher war Marlene nicht, sie hatte das Rad von Thomas Kranich nie aus der Nähe gesehen. Aber wessen Rad sollte sonst noch hier stehen?
Die Eingangstür des Flachbaus, in dem die Verwaltung untergebracht war, war verschlossen. Sie drückte wiederholt auf den Klingelknopf an der Gegensprechanlage, nichts rührte sich. Nach ein paar Minuten umrundete sie das Gebäude, spähte in sämtliche Fenster. In den Büros herrschte Dunkelheit. In der kleinen Teeküche brannte die Leuchtstoffröhre unter dem Hängeschrank über der Spüle. Die Kaffeemaschine war noch in Betrieb, wie ein rotes Lämpchen verriet. Aber von Ulla keine Spur. Es gab noch einen Waschraum, doch hinter der Milchglasscheibe war es ebenfalls dunkel. Und ringsum war es totenstill.
Sie bekam eine Gänsehaut, nicht etwa, weil ihr kalt war. Wenn Ullas Mutter mit ihren Befürchtungen richtiglag … Sie hätte sich gestern um Ulla kümmern müssen, statt den Abend mit der Geschichte einer Unbekannten zu verplempern, von der sie wohl nie erfahren würde, wie viel den Tatsachen entsprachund wie viel frei erfunden war. Und ihre beste Freundin ging derweil vor die Hunde.
Vor Unbehagen zog Marlene die Schultern zusammen, sie wusste nicht, was sie tun sollte. Nach Ulla zu rufen wäre die simpelste Methode gewesen. Das widerstrebte ihr, weil sie befürchtete, keine Antwort zu bekommen. Nach Hause fahren, auf Werner warten und ihm erzählen, dass Ullas Mutter sich Sorgen machte? Das wollte und konnte sie auch nicht so einfach, wo dieses Rad hier stand und die Kaffeemaschine in der Küche verriet, dass Ulla noch irgendwo auf dem Gelände sein musste!
Während sie den Blick über einige der draußen abgestellten Großgeräte wandern ließ, hörte sie ein fernes Klingen, als schlüge Metall auf Stein. Es schien aus der Werkhalle gekommen zu sein, die seitlich und etwas versetzt hinter dem Bürotrakt lag.
Zögernd ging sie hin. Auch die Halle schien auf den ersten Blick verlassen. Das breite Schiebetor war geschlossen. Erst im Näherkommen erkannte Marlene, dass eine Tür an der Längswand spaltbreit offen stand.
Der Spalt war zu schmal, um sich durchzuquetschen. Die Tür weiter aufzudrücken, wagte sie nicht. Der Bereich dahinter war in diffuses Zwielicht getaucht. Das reichte nur aus, um einige Maschinen, den Teil eines Förderbandes und zwei von der Decke baumelnde dicke Haken von Laufkränen zu erkennen. Weiter hinten war ein Lichtkegel auszumachen. Es sah aus, als hielte dort jemand eine starke Taschenlampe.
Marlene war nicht sicher, ob sie sich bemerkbar machen sollte. Wenn sich in der Halle jemand aufhielt, der nichts darin zu suchen hatte? Einbrecher benutzten Taschenlampen. Wenn Ulla einen Einbrecher überrascht hatte … Sie hatte nicht mal ein Handy, um Hilfe auf den Weg zu bringen.
Während ihre Gedanken sich förmlich überschlugen, hörte sie ein paar undefinierbare Geräusche und dann Stimmen.
«Und du bist sicher, dass die Lenkung …»
Ulla! Zu sehen war niemand, aber es war eindeutig Ullas Stimme. Das Lachen, das sie unterbrach, kam aus einer Männerkehle und klang rau. «Jetzt mach dir doch nicht auch noch Gedanken um meine Maschine, Ulli. Du hast wahrhaftig schon genug am Hals. Die Lenkung kann nicht beschädigt sein. Ich hab die Karre doch nur gestreift.»
Marlene spürte, wie sich die feinen Härchen in ihrem Nacken aufrichteten. Jetzt wagte sie erst recht nicht mehr, sich bemerkbar zu machen, stand wie erstarrt vor der spaltbreit geöffneten Tür und hörte zu, wie sich der Mann in der Werkhalle über einen Unfall ausließ und über das dumme Gesicht der blöden Kuh, die total besoffen gewesen war, als er ihre Karre gestreift hatte.
Die Stimme zu hören und zu begreifen, dass der Mann, über den Karola mittags ein Schauermärchen erzählt, den Annette nachmittags verteidigt hatte, nach dreieinhalb Jahren wiederaufgetaucht war, gelang Marlene nicht auf Anhieb. Wegen des ganzen Geredes über ihn hielt sie es zuerst für eine akustische
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