Der Fremde aus dem Meer
eine Briefbombe?, dachte sie zynisch.
»Das nehme ich.« Sie streckte ihre Hand aus. Er reichte ihr die Post und ging dann weiter die Treppe hinunter. Sie wollte gerade alles auf den Tisch in der Diele werfen, als ihr ein großer Umschlag auffiel. Es war allzu offensichtlich, was es mit ihm auf sich hatte, denn der Absender fehlte. Sie öffnete ihn und ließ den Inhalt herausgleiten. Sie hielt den Atem an.
Verdammt! Oh, verdammt!
Nicht schon wieder. Bitte, nicht schon wieder. Sie durchsuchte den Umschlag immer wieder, hoffte irgendetwas zu finden, was ihr einen Hinweis auf den Absender hätte geben können.
Nichts.
Aber sie wusste, was er enthielt. Und Penny zerriss das Foto, übte Vergeltung, indem sie es in winzige Stücke riss und in den Abfalleimer warf.
Schwer und unregelmäßig atmend fuhr sie sich mit den Fingern durchs Haar, während sie ihren Blick auf den Papierkorb richtete. Sie sah, wie sich ihr Leben, ihre Zukunft mit Ramsey auflöste, weil sie einmal jung und dumm und verzweifelt gewesen war.
Schluss damit!
Sie musste es ihm erzählen und die Gefahr beseitigen, dass dieses Gespenst ihre Chance auf ein Glück zerstörte. Sie sehnte sich nach seinen starken Armen und seiner ausdrucksvollen Stimme. Sie brauchte das Gefühl, das sie immer bei ihm hatte: Dass nichts anderes wichtig war.
Das Gefühl, zu Hause zu sein.
Ramsey rieb mit dem Tuch über den Rücken der Stute und wunderte sich über den gleichmäßigen silbernen Glanz ihres Felles. Ein majestätisches Tier, dachte er, und gab der Stute einen Klaps auf den Hals. Dann stemmte er sich in seine Flanke und schob einen Huf zurück. Er beseitigte den Mist und das Heu und summte dazu ein Seemannslied. Der Schweiß rann ihm vorne und hinten den nackten Oberkörper hinunter. Doch die warmen Gefilde der Ställe, die Gerüche und die vertraute Arbeit machten ihm Spaß. Er hatte in Tess’ Schilderungen seines Jahrhunderts von all dem gelesen, was ihm vertraut, aber für sie neu war. Dabei hatte Ramsey plötzlich das Bedürfnis gehabt, sich wieder einmal als Teil seines Jahrhunderts zu fühlen. Er wollte es unter seinen Händen spüren, mit ihm umgehen. Und er hatte es in den Ställen mit ihren schlichten Lehmböden und den Holzwänden gefunden. Es war die einzige Ecke auf dem gesamten Grundstück, wo er nicht erst eine Unmenge ärgerlicher moderner Gerä-te verstehen musste, bevor er eine einfache Arbeit verrichten konnte.
Dane hatte ihm stets alle Freiheit auf seiner Ranch von Coral Key gelassen, und öfter als bei einem willigen Frauenzimmer hatte man Ramsey in den Ställen gefunden. Aber es war das Zuhause, worum er Dane beneidete. Das Zuhause verschaffte das Gefühl der Zugehörigkeit, es war der rechte Ort für alles, was vor einem gewesen war, und für alles, was nach einem kam. Es waren nicht die Erbstücke oder Möbel, die ein Gefüge aus Holz und Steinen in ein Zuhause verwandelten, sondern die Leben, die dieses Gefüge schützte, die Körper, die es in der Kühle des Herbstes warm hielt, die Privatheit und der Schutz, die es Liebenden und unschuldigen Kindern gab. Ramsey sehnte sich heftig nach einem Ort, wo er mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen und den er seine Heimat nennen konnte. Penelopes Zuhause war genau das: Es war unverkennbar ihr Eigentum. Da sein Stolz ohnehin vor die Hunde gegangen war - er würde alles tun, nur um mit ihr zusammen zu sein -, wollte er für sie sorgen.
Der Kapitän zur See brauchte Arbeit.
Und er wollte eine Frau.
Einen sturen, katzenäugigen Rotkopf mit einem widerspenstigen Herzen und einer unvergleichlichen Leidenschaft.
Und Kinder, dachte er. Viele Kinder. Dass sie vielleicht jetzt schon sein Kind trug, ließ ihn vor Freude strahlen. Er ging in den leeren Stall, warf einen Ballen Heu hinein und verteilte ihn sparsam auf dem Lehmboden.
Die Stute stupste ihn an der Schulter. »Geduld, Mädchen, ich hab noch ein paar Dinge zu erledigen, bevor wir spielen können.«
Lächelnd trat Penny auf leisen Sohlen in die Scheune. Schon bei seinem Anblick ließ ihre Panik nach. Wie er da stand, mit nacktem Oberkörper, in den Bundhosen und den vom Seewasser gefleckten, knielangen Schaftstiefeln, sah er mit jedem Zentimeter wie ein Mann seines Jahrhunderts aus. Sein Anblick in dieser rauen Umgebung gab ihr einen ungefähren Eindruck von dem Leben, das er wohl einmal geführt hatte. Kein Luxus, keine Mußestunden. Er tat alles mit großer Lebensfreude und Schwung und zugleich mit einer entspannten
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