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Der fremde Freund - Drachenblut

Der fremde Freund - Drachenblut

Titel: Der fremde Freund - Drachenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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würde einen guten Großvater abgeben. Ich versprach ihm, die Kündigung zurückzuziehen.
    Später setzte sich seine Frau zu uns. Sie trug noch immer den Küchenkittel. Sie erzählte, daß sie selten Besuch hätten. Die Kinder und viele der Jugendfreunde leben in Westdeutschland. Sie habe eigentlich nur ihren Mann. Sie sah ihn bewundernd und unterwürfig an. Er knurrte etwas und stäubte sich die Asche von der Weste. Als ich ging, bat sie mich, bald wiederzukommen. Dann blickte sie zu ihrem Mann und sagte: Nicht wahr, mein Lieber?
    Er stand breit und selbstbewußt in der Wohnungstür und lächelte sie an. Dann schloß er die Augen und sagte: Wir sind alte Leute, Mutti.
    Es war eine zärtliche und unsinnig komische Szene, wie mein Chef in seinem Nadelstreifenanzug mit Weste und silberfarbener Krawatte, die halb erloschene Zigarre zwischen den Fingern, zu dem verwaschenen Hausmütterchen neben ihm »Mutti« sagte.
    Mit Henry traf ich mich regelmäßig, zwei- oder dreimal in der Woche. Meist kam er zum Abendbrot zu mir. Wir gingen selten aus. Ich war müde und wollte die Wohnung nicht verlassen. Nach dem Urlaub strengt mich die Arbeit mehr an. Ich kann mich schwer umstellen. Die beiden ersten Urlaubswochen machten mich ebenfalls nervös. Ich vertrage es nicht, den gewohnten Rhythmus zu unterbrechen. Vielleicht sollte ich keinen Urlaub machen. Im vorigen Jahrhundert war es auch nicht üblich. Erholsam ist es jedenfalls für mich nur bedingt.
    Die Wochenenden verlebe ich meist allein. So habe ich es mit Henry abgemacht. Ich brauche diese zwei Tage fürmich, an denen ich Zeit vertrödeln kann, ohne irgendwelche Rücksichten zu nehmen. Ohnehin habe ich oft genug Sonntagsdienst. Und Henry besucht alle zwei, drei Wochen seine Frau und die Kinder. Er soll nicht das Gefühl haben, zwischen ihnen und mir teilen zu müssen.
    Seine Frau lebt in Dresden. Sie ist Chemikerin an der Technischen Universität. Ein paar Jahre nach dem Studium war Henry nach Berlin zurückgekehrt. Anfangs hoffte er, für seine Frau hier eine Stelle zu finden. Nach zwei Jahren hatten sich beide daran gewöhnt, getrennt zu leben. Sie hat einen Freund, der bei ihr lebt, und alle akzeptieren den jetzigen Zustand. An eine Scheidung denkt keiner. Wie Henry sagte, hätten sie darüber noch nie gesprochen. Wahrscheinlich wollen beide nicht mehr heiraten, und der Kinder wegen halten sie eine Art Freundschaft aufrecht. Mir gefällt ihre Einstellung. Wozu sollen sie den Staat bemühen für eine Angelegenheit, die niemanden etwas angeht. Meine Scheidung war unerfreulich genug. Was berechtigt irgendeine Instanz, das Privatleben zweier Menschen auszuforschen. Drei Männer und eine Frau saßen hinter dem Tisch. Ich empfand ihre Fragen als unwürdig. Beamtete Spanner ohne Schamgefühl. Mein Mann und ich wollten nicht mehr zusammenleben, das war alles. Hilflos und mehrfach ermahnt standen wir vor ihnen wie kleine Ladendiebe. Es gelang ihnen, in mir ein Bewußtsein von Schuld zu erzeugen.
    Schon die Eheschließung war eine peinliche Farce. Eine unbekannte, schwitzende Frau im Kostüm, Ermahnungen, Verpflichtungen, Worte über das Wunder der Liebe wie Sätze aus Abpackfolien. Schließlich Vertrag, Unterschriften, Besitzurkunde, ein Transfer. Vor Verlegenheit lachte ich damals. Auf dem Hochzeitsfoto erkenne ich mich heute nicht wieder. Ein blasses, unreifes Gesicht neben einem pubertär wirkenden jungen Mann, umgeben von befriedigt strahlenden Verwandten, deren fröhliche Erleichterungnoch auf dem Foto dröhnend durchschlägt. Zwei hilflose Wesen, auswechselbar bis in die Aufstellung und Haltung des Kopfes. Erst viel später, beim Betrachten anderer Hochzeitsfotos, entdeckte ich hinter den verängstigten Gesichtern die Anarchisten. Es sind ratlose, verschüchterte Umstürzler, aber in ihren Augen schimmert unübersehbar etwas vom Glück und der Hoffnung aller Anarchie. Sie wollen die bedrückenden Umstände, die sich auf dem Foto übermütig um sie gruppieren, fliehen, vernichten, verbessern. Und die ihnen einzig denkbare Alternative verstrickt sie rettungslos in die alten Unerträglichkeiten. Der Tag der Revolte ist bereits ihr Ende. Die Demütigungen werden noch leichtfertig übersehen, die aufdringlichen Insignien der Niederlage: Vertrag, Unterschrift, Gruppenfoto. Willkommen im Schoß aller unserer Gestern, daheim im unschuldigen Würgegriff. Und es wird sein, wie es war: in Ordnung.
    Am ersten Wochenende im August entwickelte ich die angesammelten Filme und machte

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