Der fremde Freund - Drachenblut
mich, die Nebel zu verlassen, in denen ich mich verborgen halte, in denen ich geschützt bin. Ich fürchte mich, aus der Sicherheit meiner Benommenheit zu fallen, aufzutauchen, einen Körper als den meinen annehmen zu müssen, der gewaltsam gespreizten Beine gewahr zu werden, festgehalten, angeschnallt, mit dunklen Druckstellen ihrer unermüdlichen Tätigkeit. Zwischen meinen Beinen ihre Stimmen, das leise Klirren des Operationsbestecks, und wieder sein Atmen, sein Flüstern, seine Beteuerungen. Hinter den geschlossenen Lidern eine riesige, gleißende Sonne, die sich mir nähert. Ich will allein sein, nur noch allein. Laßt mich, ich will nicht, ich will nicht mehr. Ich flüstere. Es ist anstrengend zu sprechen. Meine Zunge ist wie ein Stöpsel, ein würgendes, Brechreiz verursachendes Etwas. Es wird mir unmöglich, etwas zu Ende zu denken, zu Ende zu bringen. Dann sind da Wälder, ein kühler, verhangener Himmel, der Weg, der zu einer Brücke führt, brüchigen Resten. Ich verkrieche mich im Gras, unter den Bäumen. Ich spüre kratzende Zweige, die Kälte des Erdbodens, feuchte Blätter.
Nein, die auf das Bett, den Stuhl Hingestreckte war nicht ich, bin nicht ich. Ich hatte nichts damit zu tun.
Die tropfnassen Bilder kleben übereinander. Ich bin nicht unzufrieden. Frühere Hoffnungen auf unerwartet vollkommene Fotos, auf eine überraschende Sicht des technischen Instruments, bei der Aufnahme von mir unbemerkt, verliefen sich, je öfter ich in der Dunkelkammer arbeitete. Es gibt kein Erstaunen, keine unerwarteten Ergebnisse. Der Apparat liefert zuverlässig das Verlangte, nicht mehr.
Während ich die Fotos in der Presse trocknete, klingelte es an der Wohnungstür. Frau Rupprecht, die Nachbarin,stand im Bademantel vor mir. Das graue Haar hing wirr und strähnig um ihren Kopf. Ich war erstaunt, wie kurz es ist. Sie trägt sonst einen Knoten, und ich nahm an, sie habe schulterlanges Haar.
Sie entschuldigte sich für die späte Störung. Ich sah auf die Uhr, es war bereits nach Mitternacht. Ich sagte, sie störe nicht, ich sei noch beschäftigt. Sie bat mich um Tabletten. Ihr Herz mache ihr zu schaffen, sie könne sich nicht hinlegen, ohne sofort heftige Herzstiche zu bekommen.
Ich habe eine Unruhe, verstehen Sie, sagte sie.
Sie sah mich nicht an. Ihre Augen durchliefen den Flur, ängstlich wie die Augen eines geschlagenen Hundes. Ich beruhigte sie und sagte ihr, daß ich gleich zu ihr käme. Sie möge die Tür offenlassen.
Während ich Tabletten aus dem Spiegelschrank nahm, spürte ich, daß ich müde war. Ich hielt mein Gesicht unter kaltes Wasser, trocknete es ab und ging zu ihr.
Frau Rupprecht saß im Sessel. Ich gab ihr die Tabletten und sagte, sie möge sitzen bleiben. Ich ging in ihre Küche, spülte ein Glas aus und ließ das Wasser laufen. Ihre Wohnung war sauber, aber es roch scharf. Wahrscheinlich kam es von den Vögeln. Frau Rupprecht hält sich viele Vögel. Sie besitzt mehrere Käfige, die wie Bilderrahmen an der Wand hängen. Als ich ihr das Wasser brachte, faßte sie nach meiner Hand. Sie habe eine Unruhe in sich, sagte sie wieder, wie vor einem Unglück. Aber Kinder habe sie nicht mehr, nur noch die Vögel. Als ich sie fragte, ob es für sie nicht zu schwer sei, die vielen Vögel zu versorgen, blickte sie mich verständnislos an.
Ich habe nur noch meine Vögel, sagte sie.
Sie bat mich, einen Augenblick zu bleiben. Sie fürchtete sich, allein zu sein. Dann erzählte sie von ihrem Mann und dem Sohn, die beide schon tot waren. Der Mann starb vor zwölf Jahren an einer Lungenembolie. Der Sohn verunglückte mit seinem Motorrad tödlich, er wurde dreiundzwanzig.Frau Rupprecht hatte mir die Geschichte schon einmal erzählt, aber ich hörte ihr zu, ohne sie zu unterbrechen. Dann sprach sie über ihre Unruhe. Sie habe sie immer, bevor etwas Schlimmes eintrete. So sei es gewesen, als ihr Sohn umgekommen und als ihr Mann gestorben sei, und auch bei anderen Unglücken. Wenn sie die Unruhe habe, sei es schlimm. Sie wisse jetzt, daß irgend etwas passiert, irgendwo in der Welt.
Sie hielt meine Hand und schloß die Augen. Ich glaubte, sie sei eingeschlafen. Als ich gehen wollte, sprach sie weiter. Ich verstand nicht gleich, daß sie über ihren Sohn sprach.
Ich hatte vorher nicht gewußt, wie sehr einem ein Kind weh tun kann, sagte sie.
Sie sprach über den Unfall. Nach einiger Zeit fragte ich sie, ob es ihr besser ginge. Sie bedankte und entschuldigte sich. Ich half ihr ins Bett, dann ging ich in mein
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