Der fremde Freund - Drachenblut
liegen sah, wußte ich nicht, was ich ihm sagen sollte. Vielleicht konnte ich einfach keine Briefe schreiben. Ich nahm mir vor, bald zu ihm zu fahren.
Mein Chef lud mich ein, ihn und seine Frau zu besuchen. Nach einer Dienstbesprechung bat er mich, noch für einen Moment im Zimmer zu bleiben. Er ließ mich wieder Platz nehmen und bot mir eine Zigarette an. Er spielte mit der Brille und wirkte befangen. Ich glaubte, er sei verlegen, weil er mir eine Beschwerde mitzuteilen hätte, und lächelte ihn an. Schließlich sagte er, daß seine Frau sich freuen würde, wenn ich bei ihnen vorbeischauen würde. Er sagte das sehr ironisch, was ich nicht verstand. Vielleicht war es der Wunsch seiner Frau, und er erledigte nur ihren Auftrag.
Ich bedankte mich, und er sagte, das wäre eigentlich schon alles. Wir waren jetzt beide verlegen. Es war unsinnig und zum Lachen. Ich wußte nicht, ob ich gehen sollte. Als der Chef sich über seinen Schreibtisch beugte, stand ich auf.
Vielen Dank für die Einladung, sagte ich.
Er blickte kurz hoch und sagte hochmütig: Na ja, wenn Sie einmal Zeit haben, aber ich weiß ja –
Er beendete den Satz nicht.
Als ich in mein Zimmer ging, dachte ich über ihn nach. Ich glaube, er fühlt sich alt und allein. Er fürchtet, zurückgewiesen zu werden, und vergräbt sich darum in seine Arbeit und Einsamkeit. Aber ich war mir nicht sicher. Ich verstand ihn nicht. Ich hatte auch kein Verlangen danach, ihn genauer kennenzulernen. Wozu sollte ich mich mit seinen Problemen, Traumata, Ängsten befassen. Ich bin an irgendwelchen Abgründen und Schicksalen von Menschen nicht interessiert. Dazu habe ich zuviel zu tun, mit mir, mit meiner Arbeit. Ich kann Tabletten verschreiben und Spritzen geben. Der Rest ist nicht Sache der Medizin. Ich bin kein Beichtpriester, ich verabreiche nicht Trost. Irgend jemandem irgendwelchen Mut zuzusprechen, halte ich für tollkühn oder unaufrichtig. Probleme habe ich selbst. Sie interessieren mich nur bedingt und selten. Gewissermaßen nur, wenn ich unbeherrscht bin, wenn ich mich gehenlasse. Wenn ich mich Stimmungen hingebe. Zu lösen sind wirkliche Probleme ohnehin nicht. Man schleppt sie sein Leben lang mit sich herum, sie sind das Leben, und irgendwie stirbt man auch an ihnen. Die Generation meiner Großeltern hatte dafür Sprüche parat: Wenn man einem Übel ins Gesicht sieht, hört es auf, ein Übel zu sein. Ich habe andere Erfahrungen. Was man fürchtet, bringt einen um, wozu sich also damit beschäftigen. Und anderen Menschen kann man schon gar nicht helfen. Das ist nicht zynisch, es ist eher das Gegenteil. Wenn ich an einem unheilbar Kranken herumexperimentiere, erniedrige ich ihn zum Versuchstier. Er wird ohne mich auch sterben, aber leichter, unangestrengter. Er muß dann weniger Energien in unsinnigen Hoffnungen verbrauchen. Ich weiß, es wurde in unserem Jahrhundert üblich, Verdrängungen zu diagnostizieren,aufzudecken, ins Bewußtsein zu heben. Sie werden wie Krankheiten angesehen und behandelt. Seitdem weiß man, daß jeder eine verletzte Psyche hat, ein gestörtes Verhältnis zu sich, zu seiner eigenen kleinen Welt. Und seitdem sind alle irgendwie krank. Eine Mode, die krankheitbringende Medizin, die tödliche Wissenschaft. Was soll es helfen, Verdrängungen bewußt zu machen. Verdrängungen sind das Ergebnis einer Abwehr, das Sichwehren gegen eine Gefahr. Sie sollen dem Organismus helfen zu existieren. Ein Lebewesen versucht zu überstehen, indem es verschiedene Dinge, die es umbringen könnten, nicht wahrnimmt. Ein heilsamer, natürlicher Mechanismus. Wozu diese Leichen ausgraben, mit denen man ohnehin nicht leben kann. Schließlich, die gesamte Zivilisation ist eine Verdrängung. Das Zusammenleben von Menschen war nur zu erreichen, indem bestimmte Gefühle und Triebe unterdrückt wurden. Erst eine Menschheit, die in ihrer Gesamtheit den Psychiater benötigt oder vielmehr: benötigen würde, war fähig, in Gemeinschaft zu leben. Diese Unterdrückung erbrachte das, was wir den zivilisierten Menschen nennen.
Offenbar erfordert das Zusammenleben von Individuen einige Gitterstäbe in ebendiesen Individuen. Die dunklen Kerker unserer Seelen, in die wir einschließen, was die dünne Schale unseres Menschseins bedroht. Ich verdränge täglich eine Flut von Ereignissen und Gefühlen, die mich demütigen und verletzen. Ohne diese Verdrängungen wäre ich nicht fähig, am Morgen aus dem Bett aufzustehen. Gitter, die uns vom Chaos trennen. Ein leichter Riß in unserer
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