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Der fremde Freund - Drachenblut

Der fremde Freund - Drachenblut

Titel: Der fremde Freund - Drachenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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sanften Haut läßt Blut hervorquellen. Beim Anblick eines offengelegten, schlagenden Herzens wird den meisten Menschen übel. Ein simpler, recht mechanisch arbeitender Hohlmuskel verursacht beim Betrachter Atemnot, Schweißausbrüche, Erbrechen, Ohnmacht. Der gleiche kleine Fleisch- und Blutballen, der zuvor – diskret verborgen hinter menschlicher wirkender Oberfläche, abgedeckt mitglättenden Fettschichten und einer alles besänftigenden Epidermis – einen so hohen Stellenwert in unserem Bewußtsein einnahm und geeignet war, für ein Prisma aller unserer schönsten Gefühle einzustehen. Wie erst würden uns die sichtbar gemachten Ablagerungen auf dem Grund unserer Existenz schrecken. Und wozu heraufholen, was uns belästigt, bedroht, hilflos macht. Ein radioaktiver Müll des Individuums, der unendlich wirksam bleibt, dessen fast unhörbares Grollen uns ängstigt und mit dem wir nur zu leben verstehen, indem wir ihn in unsere tiefsten Tiefen einsargen, verschließen, versenken. Ins uneinholbare Vergessen getaucht.
    Wir haben uns auf der Oberfläche eingerichtet. Eine Beschränkung, die uns Vernunft und Zivilisation gebieten.
    (Eine Kollegin berichtete über den Fall einer im Gestrüpp ihrer Innenwelt verirrten Seele. Der Mann war vierunddreißig, verfügte über einen relativ stabilen sexualökonomischen Haushalt. Sein Interesse an psychosoziologischer Literatur machte ihn mit Phänomenen des gestörten Sexuallebens bekannt, die er in der Folgezeit bei sich selbst diagnostizierte. Die intensive Beschäftigung mit seiner eigenen Person, das unaufhörliche Aufspüren und Registrieren aller Signale und Regungen seiner Psyche bescherten ihm schließlich eine ausgewachsene Kastrationsangst. Sie scheint um so unheilbarer, als der Mann die einschlägige Literatur kennt und der Therapie seine selbstgebastelte Eigenanalyse entgegensetzt. Scherze aus der Klinik.
    Eine andere beliebte Geschichte: In der Universitätsklinik habe ein Kollege einem potenzgestörten Mann auf dessen Hilferuf hin lediglich erklärt: Mein Gott, seien Sie froh, daß Sie das los sind.
    Medizinerspäße. Seit ich das weiß, machen sie mir weniger Spaß. Auch eine Folge unserer Seelendiagnose: Wenn man einen Spaß richtig analysiert, hört er schnell auf, Spaß zu machen.)
    Im übrigen ist es ohne Belang. Mein Desinteresse daran ist der wirksamste Schutz.
    Karla sagte mir, daß Henry angerufen hätte. Sie habe ihm erzählt, daß ich Nachtbereitschaft mache. Er würde später noch mal anrufen.
    Henry war seit einer Woche in Prag. Eine Dienstreise, er sollte sich die Rekonstruktionsarbeiten an einem historischen Gebäude, ich glaube, an einem Theater, ansehen. Er hatte versprochen, aus Prag anzurufen. Die Woche verging, ohne daß er sich meldete.
    Gegen zehn Uhr abends erschien er. Ich saß im Ärztezimmer der Rettungsstation. Ein Kollege von der Gynäkologischen war kurz vorher zu mir gekommen. Wir sprachen über Gehälter. Der Kollege erzählte, daß seine Frau und er getrennte Konten haben. Gelegentlich borgen sie sich gegenseitig Geld, was pünktlich zurückgefordert und zurückgegeben wird. Die Finanzen des anderen sind tabu, das unverletzlich Heilige, die wahrhafte Intimsphäre. Der wechselseitige Gebrauch der Geschlechtsorgane ist vielleicht die urwüchsige, archaische Form der Ehe, das zivilisierte Zusammenleben zweier Menschen kennt verfeinerte Muster.
    Als Henry kam, stand der Kollege auf. Ich stellte sie vor. Keiner der beiden sagte etwas. Man musterte sich schweigend, verhaltenes Lächeln, suchende Blicke zu mir. Vor ein paar Jahren noch wäre ich bemüht gewesen, irgend etwas zu sagen, eine banale Bemerkung, um das bedrückende Schweigen aufzulösen. Ich plauderte dann irgendwelche Dummheiten dahin, über die ich mich im nachhinein ärgerte. Alles nur, um dem Druck von Gesprächspausen auszuweichen. Das ist vorbei. Ich habe mir diese Schwäche abgewöhnt. Ich habe mich dazu erzogen, aus unangenehmen Situationen nicht mehr ins unverbindlich Belanglose zu fliehen. Jetzt genieße ich die nervöse, knisternde Stille, die merklich um sich greifende Verlegenheit, die sich lawinenartigvergrößernde Spannung. Das Verlangen nach dem Ende der unverhofft entstandenen Pause, die zu beenden immer unmöglicher wird, je länger sie anhält.
    Henry betrachtete die Glasschränke, mein Kollege räusperte sich. Er stand noch immer. Dann sagte er etwas von seinem Dienst und daß er nicht stören wolle. Er zwinkerte mir aufatmend zu und verließ den Raum.

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