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Der fremde Freund - Drachenblut

Der fremde Freund - Drachenblut

Titel: Der fremde Freund - Drachenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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verhöhnen dürfe. Die Lehrer und meine Eltern waren hilflos. Meine Selbstvorwürfe und Anklagen wurden schweigend übergangen. In der zwölften Klasse sagte mir eine Mitschülerin, daß sie mein Benehmen für affektiert halte. Sie sagte, ich solle mich nicht so wichtig machen, ich wirke lächerlich und überspannt. Ich widersprach ihr heftig. Doch seit dem Tag schwieg ich darüber. Daheim erwähnte keiner den Onkel, ich auch nicht mehr. Wurde über den Faschismus gesprochen, hielt ich mich zurück und blieb einsilbig. Ich begriff, daß ich ein Ärgernis war, unlösbar, unaufhebbar, erklärungslos. Und ich begann zu schweigen, um nicht andere zu belästigen.
    Onkel Gerhard starb im dritten Jahr seiner Haft. Die Erbschaft wurde von Vater ausgeschlagen und zugunsten der Stadt G. versteigert.
    Das Zimmer wurde unwirtlicher, je länger ich in dem Sessel saß. Die Tapete war angegraut. Ich fürchtete, wenn ich sie länger ansähe, würden kleine Tierchen hinter ihr hervorkriechen. Ich zog mich aus. Als ich zum Bett ging,trat ich mit dem Fuß in etwas Kaltes, Nasses. Das verschüttete Bier. Es war mir so unangenehm, daß ich zum Waschbecken ging und den Fuß lange unter das laufende, lauwarme Wasser hielt. Nein, mit dieser Stadt hatte ich nichts zu tun. Die Fahrt nach G. erschien mir als ein unbedachter, dummer Einfall.
    Am nächsten Morgen, beim Frühstück – die Brötchen waren vom Vortag, der Kaffee schmeckte nach Zichorie, und wie zum Hohn kam der Geschäftsführer zweimal an unseren Tisch und fragte, ob alles zu unserer Zufriedenheit sei, und da er eine Arm- oder Handprothese trug, wir sahen nur die steifen, schwarz behandschuhten Finger, versicherten wir beide, es sei alles wunderbar –, am Morgen sagte ich zu Henry, daß wir sofort abfahren könnten. Ich fügte hinzu, daß ich unausgeschlafen und nervös sei und er mich bitte mit irgendwelchen glänzenden, ironischen Bemerkungen verschonen möchte. Ich sagte es freundlich, um ihn nicht zu kränken, und ich glaube, er verstand mich.
    Wir bezahlten die Hotelzimmer und fuhren los. Da wir den Tag frei hatten, beschlossen wir, in Wörlitz zu halten. Es war ein sonniger, warmer Herbsttag. Durch den großen Park liefen Reisegesellschaften. Wie Vogelschwärme fielen sie plötzlich irgendwo ein, laut und flatternd, und ebenso plötzlich verschwanden sie auch.
    Sonst war es still. Am Nachmittag regnete es, hellte aber bald wieder auf, und mit der Sonne kamen Scharen von Besuchern. Wir spazierten vom Palmengarten zu den Grotten und gingen weiter bis zu den Elbwiesen. Hier waren wir allein. Wir legten uns in den Mänteln aufs Gras und sonnten uns. Ich fragte Henry, woran er sich erinnere, wenn er an seine Kindheit denke. Er erwiderte, er denke nie daran.
    Manchmal, sagte ich, manchmal aber überfällt uns unsere eigene Vergangenheit wie ein unerwünschter Schatten. Wir können sie nicht aus unserem späteren Leben heraushalten.
    Ich lasse es nicht zu, erwiderte er.
    Und warum? fragte ich ihn.
    Er beugte sich über mich und sah mir in die Augen.
    Weil es zwecklos ist, sagte er dann, weil es uns unfähig macht zu leben. Und ich brauche es nicht, fügte er hinzu, ich habe da keine Schwierigkeiten mit mir.
    Das kann ich nicht glauben, sagte ich.
    Er lachte laut auf und küßte mich und sagte, ich solle von ihm denken, was ich wolle. Er sei es gewöhnt, daß die Frauen bei ihm nach einem tieferen Sinn forschen. Ihm sei es gleichgültig.
    Dann liefen wir an der Elbe entlang. Als es dunkel wurde, kehrten wir um. Noch bevor wir unser Auto fanden, war es Nacht. Eine finstere, sternenlose Nacht, von keinem künstlichen Licht aufgehellt. Nicht gewöhnt an eine solche Dunkelheit, stolperten wir mehrmals, ehe wir das Auto wiederfanden.
    Wir fuhren in die Stadt, um Abendbrot zu essen. Die einzige geöffnete Gaststätte war überfüllt. Wir liefen zum Bahnhof und aßen in einem grauen Mitropa-Saal Salat und Käse. Es roch aufdringlich nach Bier und kaltem Zigarettenrauch. Gegen zehn Uhr starteten wir nach Berlin.
    An der Autobahnauffahrt wären wir fast mit einem entgegenkommenden Wagen zusammengestoßen. Henry fuhr schnell, und der andere Wagen kam plötzlich aus der Kurve geschossen. Wir waren auf der Gegenspur. Die Scheinwerfer des anderen Wagens sah ich direkt auf mich zukommen. Ich schrie auf. Das andere Auto hupte laut und durchdringend. Ich griff ins Steuer, um den Wagen zur Seite zu lenken. Das andere Fahrzeug bremste und drehte sich. Henry schlug mir mit dem Handrücken ins

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