Der fremde Freund - Drachenblut
solle gleich zu ihr fahren, er hätte es mir sofort sagen sollen. Er nickte. Ich begleitete ihn bis zur U-Bahn. Unvermittelt beklagte er sich über seine Frau. Er sprach sonst nie über sie. Er erzählte, sie rufe ihn häufig an, verlange, daß er bei ihr undden Kindern erscheine, wobei sie immer irgendwelche Katastrophen melde. Mit ihrem Freund scheine es nicht mehr zu klappen. Sie verlange, daß er jedes Wochenende in Dresden sei. Erbittert sagte er: Und nach zehn Minuten streiten wir uns.
Vor dem U-Bahn-Schacht schob er seinen Hut ins Genick und stieß mit dem Fuß kräftig gegen etwas Imaginäres. Als wir uns verabschiedeten, sah ich, daß an seinem Hemd ein Knopf fehlte. Ich fragte mich, warum mir das auffiel. Ich ging in meine Wohnung, machte mir Abendbrot und aß vor dem Fernseher. Danach ging ich ins Bett. Jetzt, wo ich krank war, hatte ich ein großes Schlafbedürfnis.
In der zweiten Woche besuchte mich mein Chef. Er kam zum ersten Mal zu mir. Ich hatte nie gehört, daß er jemals einen Kollegen besucht habe. Als ich die Tür öffnete und ihn sah, starrte ich ihn wohl sehr verwundert an. Er wurde verlegen und überreichte mir stumm einen in Papier gewickelten Blumenstrauß. Dann nahm er ihn mir aus der Hand, wickelte ihn hastig aus und gab mir die Nelken nochmals. Seine Selbstsicherheit gewann er allmählich zurück. Mein Zimmer fand er entsetzlich und sagte, er wolle dafür sorgen, daß ich eine richtige Wohnung bekäme. Ich sagte, ich sei zufrieden mit dem einen Zimmer, ich benötige nichts anderes. Wir tranken Kaffee, und er machte freundliche, belanglose Bemerkungen. Ich wußte nicht, weshalb er gekommen war. Ich wartete darauf, daß er irgendwann den Grund für seinen Besuch nennen würde.
Er betrachtete meine Bücher und stellte enttäuscht fest, daß ich fast nur Belletristik besaß. Ob ich denn gar keine Fachliteratur läse, wollte er wissen. Ich schüttelte den Kopf. Gelegentlich habe ich zwar den Wunsch, kaufe mir sporadisch auch Fachzeitschriften oder ein empfohlenes Buch mit neueren Forschungsergebnissen. Aber dann habe ich meist doch keine Kraft, es zu lesen. Ich hätte seit Jahrennicht das geringste Bedürfnis danach. Manchmal komme in mir eine Art moralisches Interesse hoch, mich mit neuen Publikationen zu beschäftigen. Aber das sei lediglich ein überkommener Impuls, eine Erinnerung an frühere Haltungen und bald vorbei. Ich wüßte auch nicht, wozu ich es gebrauchen könne. Es wäre nur etwas »Forscherhaltung«, die eingeimpften humanistischen Vorbilder aus längst vergangenen Jahrhunderten. Für meine Arbeit in der Klinik reiche vollständig aus, was ich an der Uni gelernt hätte und was wir im Kollegenkreis oder bei den regelmäßigen Lehrgängen diskutierten. Er entgegnete, er könne eine solche Haltung nicht verstehen, und ich erwiderte ihm, daß ich ihn begreife. Manchmal würde ich es selbst nicht verstehen.
Sie haben keine Disziplin, sagte er, Ihre ganze Generation besitzt keine Disziplin.
Er nestelte nervös an seinem Hemdkragen. Dann sprang er auf und rief: Wissen Sie, daß ich in den letzten fünfzehn Jahren nicht einen einzigen Tag krank gewesen bin, nicht einen einzigen Tag. Gesundheit, meine Liebe, ist für mich eine Frage von Disziplin. Und das sage ich Ihnen als Arzt.
Die blaugemusterte, breite Fliege an seinem Hals war verrutscht. Ich sagte ihm, daß ich seine Meinung teile und von ihm gern erfahren würde, wie ich zu dieser großartigen Disziplin kommen könne. Ich würde es selbst bedauern, so viel weniger Disziplin als er zu besitzen, aber solange er sie mir nicht als Spritze oder wie ein Multivitaminpräparat verschreiben könne, sähe ich für mich keine Möglichkeit. Er sah mich mitleidig an und sagte: Sie werden es schwer haben. Es wird Ihrer ganzen Generation schwer werden zu altern.
Das sei schon möglich, erwiderte ich, aber ich wüßte nicht, was dagegen zu tun sei.
Sie müssen Disziplin trainieren, mein Kind, sagte er. Ich hielt ihm vor, daß es dann lediglich eine Illusion wäre, diebald zusammenbrechen würde. Doch er wiederholte mehrmals, daß ich sie trainieren sollte.
Er war mit mir unzufrieden, aber es störte mich nicht. Er war ein alter Mann, dem ich das Recht zugestand, mir so etwas zu sagen. Vielleicht, weil er mir nicht unsympathisch war. Außerdem interessierte es mich nicht weiter.
Er unternahm dann den Versuch, mit mir zu plaudern, was ihm mißlang. Er war wohl zu sehr Pädagoge, als daß er jetzt noch ein lockeres Gespräch hätte
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