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Der fremde Freund - Drachenblut

Der fremde Freund - Drachenblut

Titel: Der fremde Freund - Drachenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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zurückgab, auf daß er den Barbaren als nicht zu ihm gehörig wieder tief in die dunklen Schichten, die Verliese unserer Menschlichkeit, vergraben konnte. Armselige, lächerliche Männer.
    Henry schwieg. Wir fuhren wortlos nach Berlin, und es war gut so.
    Vor meiner Wohnungstür verabschiedeten wir uns. Er lächelte blaß und verlegen. Ich wünschte ihm unbefangen gute Nacht.
    Ich würde die Ohrfeige nicht vergessen, sie ihm nicht verzeihen. Aber ich wußte auch, daß ich nicht weiter darüber nachdenken würde. Ich war jetzt neununddreißig. Es wäre lächerlich von mir, über einen fast belanglosen Vorfall Erstaunen zu zeigen. Wenn der Regen fällt, werden wir naß, ich bin kein kleines Mädchen mehr, damit muß ich mich abgefunden haben. Es läuft alles in seiner gewohnten Ordnung, alles normal. Kein Anlaß für einen Schrei. Nur nicht hysterisch werden. Ich will bleiben, was ich bin, eine nette, sehr normale Frau. Es ist nichts geschehen.
    Die Luft in meinem Zimmer war stickig. Ich öffnete das Fenster, bevor ich mich in den Sessel fallen ließ.

10
    Im November war ich zwei Wochen krank. Der Rücken machte mir zu schaffen, die Zwischenwirbelscheiben. Es war nichts Bedeutungsvolles, nur schmerzhaft. Gymnastik, Galvanische Durchflutungen, Unterwassermassagen halfen wenig. Jedenfalls spürte ich keine Erleichterung. Eine Allerweltskrankheit. Die Knochen lösen sich auf, die Knorpel zerfallen, ein degenerierter Staub. Ein entwicklungsgeschichtlicher Kreislauf, zurück zu den Lurchen, Wassertieren, zur Uramöbe. Notdürftig wird die rückläufige Entwicklung der menschlichen Natur noch bemäntelt, die längst unbrauchbar gewordenen Organe durch fabelhafte Erfindungen ersetzt. Auto und Rolltreppe, Herzschrittmacher und künstliche Lunge, Goldzähne, Kunststoffglieder, Silberplatten als stabilerer Knochenersatz. Eine perfektionierte Natur. Das Überleben der Menschheit als eine Frage der Ersatzteile. Der Fortschritt ist abhängig vom tadellosen Funktionieren der rückwärtigen Dienste. Die Fortpflanzung wird durch Gegenpoligkeit männlicher und weiblicher Ersatzteile gewährleistet: Der Rest ist Magnetismus.
    Bevor ich meine Tage bekam, ließ ich mich krankschreiben. Ich hätte es sonst nicht durchgehalten.
    Ich ging viel spazieren, und jeden Vormittag schwamm ich eine Stunde in der Schwimmhalle. Nach dem Frühstück hörte ich mir Platten an, eine beruhigende Einführung in den Tag. Ich versuchte, einen Goldschmied aufzutreiben, der mir ein Halskettchen repariert. Überall wurde ich vertröstet. Reparaturen sind zu aufwendig. Zweimal holte ich Henry von der Arbeit ab. Das erste Mal war er überrascht, ich hatte ihn zuvor nie abgeholt.
    Er kam mit einem Kollegen aus dem Bürohaus. Zu drittgingen wir in ein Café an der Spree. Herr Krämer, Henrys Kollege, war sehr amüsant. Er erzählte unglaubliche Geschichten aus seinem Betrieb und lachte selbst laut und herzlich darüber. Ich merkte, ich gefiel ihm. Wenn ich sprach, wurde er ruhig und musterte mich nachdrücklich. Später versuchte er, vorsichtig zu erkunden, welches Verhältnis Henry und ich hatten. Jedenfalls faßte ich seine Einladung, mit ihm zusammen Silvester zu feiern, so auf. Henry blieb reserviert. Ich wußte nicht, ob es ihm unangenehm war, von einem Kollegen mit »seinem Verhältnis« gesehen zu werden. Als wir das Café verließen, faßte er nach meiner Hand, ein erstes, wohl bewußt für den Kollegen gesetztes Zeichen unserer Gemeinsamkeit. Der Kollege bemerkte es zufrieden lächelnd. Als wir uns verabschiedeten, kam der anerkennende Blick von Mann zu Mann: stumme Gratulation zu Henrys Wahl. Der Kennerblick des Feinschmeckers, Sektexperten, Pferdeliebhabers. Henry kratzte sich am Hals: er war also beschäftigt, er mußte darauf nicht reagieren. Für Silvester waren wir verabredet. Ich hatte zugestimmt, obwohl ich wußte, daß ich gar nicht in Berlin sein würde. Herr Krämer würde es verkraften.
    Wir liefen durch die Stadt und sahen uns Schaufenster an. Henry wirkte nervös. Der Wind wirbelte Straßenstaub auf und weggeworfene Zeitungen. An einer Plakatsäule fragte ich Henry, ob er Lust hätte, ins Theater zu gehen.
    Wir fanden nichts, was uns interessierte. Ich schlug ihm vor, irgendwo zu essen, doch er sagte, er habe keine Zeit. Er müsse noch heute nach Dresden fahren, seine Frau erwarte ihn. Er habe es mir vorher nicht sagen wollen. Der ältere Sohn mache in der Schule Schwierigkeiten, und seine Frau habe ihn gebeten zu kommen. Ich sagte, er

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