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Der fremde Freund - Drachenblut

Der fremde Freund - Drachenblut

Titel: Der fremde Freund - Drachenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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führen können. Als er ging, fragte ich ihn, ob er nicht mit einer bestimmten Absicht zu mir gekommen sei, einem Auftrag, einem Anliegen. Er fragte, ob ich ihn denn so einschätze, und ich sagte sofort: Ja.
    Vielleicht haben Sie nicht unrecht, aber diesmal bin ich einfach so gekommen, sagte er lächelnd. Und dann fügte er hinzu: Lassen Sie sich mal bei uns sehen, Sie wissen doch, meine Frau –
    Ich sagte, daß ich wisse und bald bei ihm vorbeikommen würde.
    Es blieb mir rätselhaft, weshalb er gekommen war. Er war ein lieber, alter Mann, etwas kauzig, etwas förmlich, aber ein guter Chef. Ich glaube, er ist so etwas wie ein Kavalier der alten Schule, mit heimlichen Stelldicheins, kleinen, wohlüberlegten Überraschungen, einem immer korrekten Anzug und dem passenden Rasierwasser. Die Nelken für mich hat er sicher selbst ausgesucht.
    Während ich das Geschirr abwusch, erinnerte ich mich, daß meine Kollegen auch völlig andere Geschichten über den Alten erzählen. Vielleicht war es Mißgunst, oder auch er hatte eine zweite, gänzlich andere Natur. Und vielleicht war sein Besuch bei mir etwas wie ein waghalsiger Ausbruch aus seiner Disziplin.
    Einen Tag bevor ich wieder zum Dienst ging, rief Mutter an. Ich räumte eben die Küche um, das heißt, ich stellte ein paar Sachen woanders hin, ohne daß ich dadurch viel Platzgewann. Sie hatte in der Klinik erfahren, daß ich krank sei. Sie wollte wissen, was ich habe und warum ich mich nicht melde. Ich sagte ihr, es sei alles in Ordnung. Ich versprach, Weihnachten zu kommen. Sie fragte, ob ich allein käme, und da ich nicht antwortete, meinte sie, wenn ich einen Bekannten mitbrächte, ginge das natürlich auch. Ich erkundigte mich nach Vater, und dann verabschiedeten wir uns. Sie sagte auf Wiedersehen und fragte, ob noch etwas sei, und sie sagte nochmals auf Wiedersehen. Danach bestellte sie noch Grüße von Vater, und wir verabschiedeten uns zum drittenmal.
    Am Abend ging ich mit Henry zu Bekannten. Ich glaube, sie hatten mit Henry zusammen studiert. Es war ermüdend, und wir langweilten uns alle. Wir hatten uns nichts zu sagen und sprachen über Fernsehsendungen. Ich sagte bald, daß ich gehen müsse. Als ich aufstand, wollte Henry mich begleiten. Seine Bekannten protestierten, und ich sagte, daß ich allein gehen werde. Henry setzte sich wieder hin. Am nächsten Tag rief er in der Klinik an und erzählte, daß es noch sehr unangenehm geworden wäre. Seine Bekannten wären ausfallend geworden, weil ich gleich wieder gegangen sei und sie sich so viel Mühe mit den Vorbereitungen gegeben hätten.
    In der zweiten Dezemberwoche rief mich Michael an, Charlottes Mann. Er fragte, ob er vorbeikommen könne. Er wirkte aufgeregt am Telefon. Ich sagte, daß ich ihn erwarte. Als er kam, erzählte er, daß man seinen Vater ins Pflegeheim gebracht habe. Sein Vater hätte nie ins Pflegeheim gewollt. Während er, Michael, auf einer Dienstreise war, hätten seine Nachbarn veranlaßt, daß man den alten Mann fortbrachte. Sie wollten in seine Wohnung einziehen. Michael hoffte, daß ich ihm behilflich sein könnte, den Vater herauszuholen. Er nannte mir den Namen des Arztes, der die Einweisung ausgeschrieben hatte. Ich rief den Kollegen an, er war mir nur namentlich bekannt. Ichsprach lange mit ihm. Es wäre bei Michaels Vater eine sogenannte Kälteeinweisung gewesen, der Arzt erinnerte sich. Sie wären mittags in die Wohnung gegangen, um den angezeigten Fall zu prüfen. Der alte Mann hätte im Bett gelegen, die Zimmer seien ungeheizt und nicht aufgeräumt gewesen. Auch schien es, als habe der Alte in den letzten Tagen nichts Warmes gegessen. Alles hätte eindeutig für eine Kälteeinweisung ins Pflegeheim gesprochen, und er, der Kollege, hätte sie auch sofort ausgestellt.
    Ich fragte ihn, ob Michaels Vater damit einverstanden gewesen sei. Jedes Wort einzeln betonend, sagte er, daß die Einwilligung eines in solchem Grade vernachlässigten Menschen für eine Einweisung in eine Pflegestätte nicht notwendig sei.
    Michael saß neben mir und hörte mit. Er flüsterte mir zu, daß ich sagen solle, die Nachbarn wären auf die Wohnung scharf gewesen und hätten seine Abwesenheit benutzt, um den alten Mann abzuschieben. Ich sprach auch darüber mit dem Sozialarzt. Er sagte, daß er dies für möglich halte, es sei auch schon vorgekommen. Einige der eingereichten Anträge wären sogar anonym oder unter falschem Namen gestellt worden, und die Behörde würde daher jeden Fall sehr genau prüfen.

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