Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
ihm so einfach zuschreiben würde.
Das dachte sie auch jetzt wieder, im angenehmen Baumschatten auf der Wiese sitzend und ihm nachblickend. Nein, es war eher so, dass sie den Eindruck hatte, ihn berührten Ereignisse und Situationen nicht wirklich. Trotz seiner fröhlichen Unbekümmertheit, die man auf den ersten Blick als eine unkomplizierte Lebensfreude gedeutet hätte, schien er ihr immer ein gutes Stück abgerückt von der Welt, eingeschlossen in eine Art von Kokon, der ihm alles Unangenehme, Schwierige, Problematische vom Leib hielt. Aber womöglich auch alles Schöne. Trotz seines ständig lachenden Gesichts hatte Inga manchmal den Eindruck, dass es nicht wirkliches Glück war, was ihn erfüllte. Es war lediglich die Abwesenheit von Unglück, die ihn so sonnig wirken ließ.
Es ist nicht echt.
Entschlossen unterdrückte sie diese Gedanken. Es war schon immer eine Schwäche von ihr gewesen, Menschen und Situationen zu Tode zu analysieren. Ihre letzte Beziehung war darüber zerbrochen. Sie wollte nicht noch einmal die gleichen Fehler begehen. Es war nur logisch, dass es zwischen Marius und ihr zu Problemen kommen musste. Ein Mann, der das Leben nahm, wie es kam, und sich wenig Gedanken um den nächsten Tag machte, und eine Frau, die sich in grübelnder Sorge um die Zukunft verzehrte – natürlich prallten hier gelegentlich zwei Welten aufeinander.
Aber vielleicht tun wir einander gut, dachte sie schläfrig und ließ sich in das Gras zurücksinken, betrachtete den unwirklich blauen Himmel über sich, vielleicht läßt er mich ein bisschen leichtfüßiger werden, und ich sorge dafür, dass er nicht ganz und gar blauäugig irgendwann einmal in eine dumme Geschichte gerät.
Sie schloss die Augen.
Als sie sie wieder öffnete, wusste sie nicht, ob sie einen Moment lang eingeschlafen gewesen war. Sie sah in Marius’ lächelndes Gesicht. Neben ihm Maximilian, der sie besorgt betrachtete. Und sie sah eine Frau. Eine sehr schöne Frau, mit langen, dunklen Haaren, einem blassen Gesicht und unendlich traurigen Augen. Sie hatte eine Cremetube und Verbandszeug in der Hand, aber sie schüttelte gerade den Kopf.
»Da kann ich nichts ausrichten. Die Wunden haben sich entzündet. Es wäre besser, ein Arzt schaut sich das an.«
»Okay«, sagte Maximilian. Er streckte Inga die Hand hin. »Können Sie bis zum Auto laufen?«
Sie nickte.
»Dann bringe ich Sie jetzt zum Arzt«, sagte er.
Donnerstag, 22. Juli
1
Das Telefon klingelte mitten in der Nacht. Karen hatte nur oberflächlich und unruhig geschlafen und war sofort wach, richtete sich auf und lauschte in die Dunkelheit. Ihr Herz raste. Die Anzeige auf dem Radiowecker neben ihrem Bett sagte ihr, dass es halb drei war. Ein Anruf zu dieser Zeit konnte nichts Gutes bedeuten.
Das Telefon schrillte erneut, es klang viel lauter als am Tag.
»Wolf«, wisperte sie, »das Telefon!«
Wolf knurrte etwas Unverständliches, knäulte sich sein Kissen um den Kopf und rollte sich auf den Bauch. Es war klar, dass er nicht aufstehen würde, und so schwang Karen ihre Beine aus dem Bett und tappte zu dem Apparat, der im Flur stand.
Sie nahm den Hörer ab.
»Ja?«, fragte sie. »Hallo?«
Zuerst konnte sie überhaupt nichts hören. Dann nahm sie etwas wahr am anderen Ende der Leitung, das wie Atmen klang. Ein gepresstes, angestrengtes Atmen.
»Hallo?«, fragte sie noch einmal. »Wer ist denn da?«
Wieder bekam sie keine Antwort, aber das Atmen klang ein wenig lauter. Es war gespenstisch, und ihr fielen Geschichten ein, die sie gehört und gelesen hatte: von Männern, die zu den unmöglichsten Uhrzeiten bei Frauen anriefen, sich an ihrer
Verwirrung oder Furcht weideten und darüber eine perverse sexuelle Befriedigung fanden. Allerdings stießen diese Männer meist Obszönitäten oder Drohungen aus, während dieser Anrufer überhaupt nichts sagte. Zudem – und sie hätte gar nicht genau sagen können, weshalb sie diesen Eindruck hatte – klang das befremdliche Atmen nicht wie das erregte Keuchen eines Triebtäters. Eher schienen es Atemzüge der Angst zu sein – und der Anstrengung. Als ringe jemand um Atem und schaffe es nicht, gleichzeitig noch etwas zu sagen.
Es mochte an diesem Eindruck liegen, weshalb Karen dem Impuls widerstand, einfach den Hörer aufzulegen und so schnell wie möglich in ihr warmes Bett zurückzukriechen.
»Bitte sagen Sie doch etwas«, sagte sie.
Der unbekannte Anrufer schien ein Wort formen zu wollen, aber es kam nur ein gepresster Laut heraus. Der
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