Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
Atem war noch leiser geworden, klang röchelnd jetzt.
»Sagen Sie mir Ihren Namen«, bat Karen, »ich werde sonst auflegen.«
Nur der Atem, schwach und unregelmäßig.
»Hören Sie, wer auch immer Sie sind, ich kann nichts für Sie tun«, sagte Karen. »Sie müssten mir Ihren Namen oder Ihre Adresse oder Telefonnummer nennen. Ich kann sonst wirklich nichts machen.«
Sie wartete. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verstrichen war, ob eine oder zwei Minuten oder länger. Sie merkte nur, dass trotz der warmen Sommernacht Kälte an ihren nackten Beinen emporkroch, dass sie fröstelnd von einem Fuß auf den anderen trat. Und dass etwas Bedrohliches nach ihr griff, dass irgendetwas soeben in ihr Leben eindrang, das nichts mit ihrer bisherigen Wirklichkeit zu tun hatte.
»Ich muss jetzt auflegen«, sagte sie hastig, tat es und starrte dann den Telefonapparat an, als erwarte sie von ihm eine Erklärung oder sonst eine Reaktion, und sei es nur ein erneutes
Klingeln. Aber nichts tat sich. Die Nacht war wieder so still und so ruhig, als sei nichts geschehen.
Karen huschte ins Bett zurück. Sie wusste, dass es ihr nun überhaupt nicht mehr möglich sein würde, einzuschlafen.
»Wolf«, flüsterte sie.
Er brummte: »Was ist denn?«
»Das war ganz komisch eben. Jemand war am Telefon, aber er hat nichts gesagt. Nur geatmet.«
»Irgendein Scherzkeks. Es gibt so Leute.«
»Ich weiß nicht … er … oder sie … atmete ganz seltsam.«
Wolf gähnte.» Dann wird’s so ein Perverser gewesen sein. Der hat sich an deiner Stimme aufgegeilt.«
»Es war nicht diese Art von Atmen. Es war …« Wenn sie es nur in Worte fassen könnte. »Als ob jemand wirklich in Not sei. Hilfe bräuchte. Jemand, der schlecht Luft bekommt, und der sich bemüht, etwas zu sagen …«
Wolf gähnte erneut. »Karen, du hast eine blühende Fantasie. Du bildest dir höchst eigenartige Dinge ein. Aber weißt du, was nett wäre? Wenn du das nicht mitten in der Nacht tun würdest. Es gibt Menschen, die haben hart zu arbeiten tagsüber, und die brauchen ihren Schlaf.«
»Ich habe diesen Anrufer ja nicht bestellt!« Plötzlich kam ihr ein Gedanke, sie richtete sich auf. »Und wenn es meine Mutter war?«
»Deine Mutter ruft doch nicht um diese Zeit bei dir an!«
»Wenn sie Hilfe braucht, schon.« Karen machte sich häufig Sorgen um ihre Mutter. Sie lebte ganz allein in der großen Wohnung, die ihr verstorbener Mann ihr hinterlassen hatte, und widersetzte sich hartnäckig den Bestrebungen ihrer Tochter, sie zum Umzug in eine kleinere Wohnung in der Nähe der Familie zu überreden. Am liebsten hätte Karen sie zu sich geholt, doch wann immer sie dieses Thema angeschnitten hatte, war Wolf in heftigen Protest ausgebrochen.
»O Gott, nein. Bloß das nicht! Deine Mutter ist eine nette Frau, Karen, aber mit meiner Schwiegermutter unter einem Dach – das brauche ich nun wirklich nicht! Schlag dir das lieber schnell aus dem Kopf!«
»Ich werde bei Mama anrufen«, entschied Karen und stieg erneut aus dem Bett. »Ich finde sonst keine Ruhe.«
Wolf stöhnte. »Also wirklich, Karen, du bist manchmal einfach unmöglich! Lass die arme Frau doch schlafen. Ich meine, wie kann man so hysterisch sein? Was glaubst du, wie viele Menschen nachts von irgendwelchen Witzbolden angerufen werden, ohne dass sie nachher solch einen Wirbel veranstalten? «
Aber sie war schon draußen, stand erneut am Telefon und wählte die Nummer ihrer Mutter. Es dauerte eine ganze Weile, bis die alte Dame sich meldete. Sie klang verschlafen und war äußerst erstaunt, als sie begriff, dass es ihre Tochter war, die sie anrief. »Liebe Güte, Karen! Ist etwas passiert? Ist etwas mit den Kindern? Oder mit Wolf?«
Wie sich herausstellte, hatte sie mit dem geheimnisvollen Anruf nichts zu tun, und sie war auch sehr verwundert über Karens Vermutung, sie könnte nachts bei ihr um Hilfe bitten.
»Also, da würde ich doch gleich den Notarzt anrufen«, sagte sie, und dann fügte sie vorwurfsvoll hinzu: »Ich muss sagen, du hast mich jetzt ganz schön erschreckt. Ich habe richtig Herzklopfen. Mach so etwas nicht mehr, Karen. Was ist los mit dir? Du bist ein bisschen überspannt in der letzten Zeit, habe ich den Eindruck.«
Der Vorwurf traf, schließlich behauptete Wolf das Gleiche. Karen merkte, dass sie wieder einmal am liebsten zu weinen begonnen hätte.
»Wie kommst du denn darauf?«, fragte sie, mit einer Stimme, die sogar in ihren eigenen Ohren piepsig und unsicher wie die eines Schulmädchens
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