Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
dabei schmerzerfüllt zusammen. »Ich war bewusstlos. Dann war er weg.«
»Wo waren Sie? Ich meine, wo ungefähr befand sich das Schiff zu diesem Zeitpunkt?«
»Vor dem Cap Sicié. Es war ein furchtbarer Sturm.« Ingas Sprache wurde deutlicher. »Riesige Wellen. Ich glaube, der Baum hat ihn getroffen. Von dem … Großsegel. Der schlug hin und her. Ich glaube, der hat ihn vom Boot runtergefegt.«
Rebecca biss sich auf die Lippen. Dies klang außerordentlich bedrohlich. Sie drehte sich um und übersetzte das Gespräch für Albert.
»Sie war bewusstlos und hat nichts so richtig mitbekommen«, fügte sie hinzu. »Aber da Marius ja offenbar tatsächlich verschwunden ist, könnte es so gewesen sein, wie sie sagt. Mein Gott, Albert, glauben Sie, dass er noch lebt?«
»Fragen Sie sie, ob er seine Schwimmweste anhatte«, bat Albert.
Rebecca wiederholte die Frage auf Deutsch und Inga nickte. »Ja. Da bin ich ganz sicher.«
Albert stellte seine Tasse ab. Er hatte sich wieder erholt. »Ich informiere den Seenotrettungsdienst. Kümmern Sie sich um das Mädchen?«
Rebecca nickte. »Ich fahre jetzt erst einmal mit ihr zum Arzt. Der soll sich vor allem ihre Kopfverletzung ansehen. Und dann nehme ich sie mit zu mir. Wenn sie mir noch Informationen gibt, rufe ich Sie an, Albert.«
Albert ging zum Schreibtisch, kritzelte etwas auf einen Block, riss den Zettel ab und reichte ihn Inga. »Meine Handy-Nummer. Da bin ich jederzeit zu erreichen.«
»Alles klar«, sagte Rebecca. Sie schaute hinaus in den Sturm.
Weltuntergang, dachte sie. Und dann: Jetzt habe ich diese Inga am Hals.
Sie begann sich in eine Geschichte zu verstricken. Und sie hatte das beunruhigende Gefühl, dass sie die Kontrolle darüber bereits verloren hatte.
Montag, 26. Juli
1
Agneta sieht einfach toll aus, dachte Clara neidisch.
Agneta war die typische Skandinavierin. Sie hatte auffallend lange Beine, fast hüftlange hellblonde Haare und große, leuchtend blaue Augen. Frisch von den Malediven zurückgekehrt, war sie überdies tief gebräunt, was in einem besonders schönen Kontrast zu ihren hellen Haaren stand. Früher – als sie und Clara noch Kolleginnen gewesen waren – hatte sie fast ausschließlich Jeans getragen, oder im Sommer billige Baumwollröcke, dazu T-Shirts oder ausgeleierte Sweat-Shirts. Jetzt hingegen verriet ihre Kleidung, dass ihr Mann viel Geld verdiente. Das hellblaue Leinenkostüm mit dem knielangen Rock war erstklassig geschnitten, die beigefarbenen Sandalen mit sehr hohem Absatz stammten mit Sicherheit aus einem der teuersten Schuhgeschäfte der Stadt. Sie trug eine Perlenkette um den Hals, Perlen an den Ohren, ein passendes Armband am Handgelenk. Auf ihrer Handtasche stand zwar diskret, aber dennoch unübersehbar, ein Designerlabel.
Sie hat es zu etwas gebracht, fuhr Clara in ihren Gedanken fort, aber sie versuchte jetzt, ihren Neid zu unterdrücken. Neid war kein gutes Gefühl, und außerdem machte Geld nicht glücklich. Nicht allein jedenfalls.
Dennoch kam sie sich neben Agneta ziemlich unattraktiv vor. Sie war auf den Besuch vorbereitet gewesen und hatte
sich ebenfalls in Schale geworfen, aber natürlich fiel ihre Garderobe hoffnungslos gegenüber der ihrer einstigen Kollegin ab. Der geblümte wadenlange Rock war einfach spießig, und auf ihrem weißen T-Shirt leuchtete ein grünlicher Fleck, den sie aber erst bemerkt hatte, als Agneta bereits klingelte, so dass sie sich nicht mehr hatte umziehen können. Marie hatte letzte Woche ihren Spinat ausgespuckt, und offenbar war die Waschmaschine damit nicht fertig geworden.
Kann ich eben nicht ändern, dachte sie gereizt.
Agneta war herzlich und charmant, nicht mehr so natürlich wie früher, aber keinesfalls unsympathisch. Sie hatte sich in ihrer Rolle als Vorzeige – Gattin perfekt eingelebt. Clara konnte sich gut vorstellen, dass sie auf Partys geschickt mit den Gästen plauderte, fremde Menschen einander vorstellte, elegant an ihrem Champagner nippte und stets im richtigen Moment das Richtige zu sagen wusste. Auch wenn sie vielleicht insgeheim die Nase rümpfte über Claras Leben, das kleine Haus, den winzigen Garten, so verriet sie davon nichts, sondern gab sich begeistert und überschwänglich. Sie bewunderte Marie, fand alles, was sie sah, »entzückend«, und meinte, Clara sehe richtig gut aus.
»Dir bekommt deine Ehe, mein Liebes!«
»Dir deine aber auch«, meinte Clara, »du führst sicher ein richtig aufregendes Leben.«
»Na ja, was heißt schon aufregend? Aber
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