Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
die Malediven waren schön. Es ist dort wirklich wie auf der Postkarte. Schneeweißer Sand, leuchtend türkisfarbenes Wasser … du solltest auch einmal dorthin!«
»Mit einem kleinen Kind ist der Flug zu lang«, sagte Clara, und nur in Gedanken fügte sie hinzu: Und für drei Personen ist das alles auch viel zu teuer.
»Da hast du Recht«, stimmte Agneta sofort zu, »und ich
finde ja immer, man kann sich auch daheim im eigenen Garten ganz wunderbar erholen.«
»Man kann nur von dort nicht so schöne Karten verschicken wie deine. Ich habe sie erst vor ein paar Tagen bekommen. Und nun stehst du schon hier in meinem Wohnzimmer!«
»Der Postweg ist immer der längste«, sagte Agneta, »aber ist es nicht schön, dass wir einander endlich einmal wieder treffen?«
Clara lächelte matt. »Eigentlich ja. Nur der Anlass …«
Agneta zog ihre zu perfekten Bögen gezupften Augenbrauen hoch. »Du weißt schon, worum es geht?«
»Ich vermute es. Ich fürchte, du könntest das gleiche Problem haben wie ich.«
Die beiden Frauen traten auf die Terrasse, wo Clara einen Kaffeetisch gedeckt hatte. Während sie einschenkte und den selbst gebackenen Apfelkuchen anschnitt, fischte Agneta einen Stapel Briefe aus ihrer Handtasche. Clara warf einen Blick aus den Augenwinkeln darauf, erkannte sofort die Druckschrift auf den Umschlägen, zuckte zusammen wie unter einer Ohrfeige und schüttete Kaffee über den Rock von Agnetas schickem, teurem Kostüm.
»O Gott«, flüsterte sie und konnte geradezu spüren, wie sie erblasste.
»Das macht nichts«, sagte Agneta und betupfte ihren Rock mit einer Serviette, »der kommt in die Reinigung.«
»Das meine ich nicht …« Sie stellte die Kanne mit zitternden Händen ab. »Die Briefe … es ist tatsächlich so, wie ich dachte.«
»Es waren keine neuen da, als ich von den Malediven zurückkam«, sagte Agneta, »und das hat mich dann doch etwas erleichtert.«
»Ich habe auch seit über zwei Wochen keine mehr bekommen«, sagte Clara, »aber ich kann noch immer nicht zum
Briefkasten gehen, ohne weiche Knie zu bekommen. Es ist so … schrecklich Furcht einflößend, was er schreibt.«
»Glaubst du, es ist ein Mann?«
»Ich weiß nicht … ich denke schon. Aber ich kann eigentlich nicht sagen, warum ich davon ausgehe.«
Beide Frauen sahen einander an. »Es hat mit unserer Arbeit beim Jugendamt damals zu tun«, sagte Agneta schließlich, »jedenfalls nimmt er – oder sie – in den Briefen an mich ständig darauf Bezug.«
»Bei mir auch.«
»Ich habe mir den Kopf zerbrochen, was damals passiert sein könnte. Es muss sich um jemanden handeln, der überzeugt ist, ihm sei durch uns bitteres Unrecht geschehen. Mir fällt nur nichts ein, was irgendwie … herausragend gewesen wäre. Ich meine, im Grunde könnten ganz viele Menschen auf uns sauer sein, aber es gab keinen speziellen Fall, von dem ich heute sagen würde, dass ich gleich ein ungutes Gefühl hatte oder so.«
»Weißt du, ob noch andere betroffen sind?«, fragte Clara.
»Ich habe mit den anderen noch keinen Kontakt aufgenommen. Aber wir sollten das tun. Ich meine, wenn wir wissen, wer genau alles diese Briefe bekommt, dann könnten sich vielleicht die Fälle eingrenzen lassen, mit denen die Betroffenen zu tun hatten.«
»Wenn es um Kindesentziehung ging, waren sicher eine Menge Menschen auf uns wütend«, sagte Clara.
»Und wir haben Familien betreut, die waren einfach sauer, weil sie die Betreuung hassten – auch wenn sie ohne uns nicht über die Runden gekommen wären«, ergänzte Agneta.
»Und denke mal an die Pflegefamilien, denen Kinder weggenommen wurden, weil die leiblichen Eltern dann doch wieder geeignet erschienen. Da sind eine Menge Tränen geflossen. Und Aggressionen geweckt worden.«
»Aber ich kann mir keine Pflegefamilie vorstellen, die so bösartig wie dieser Briefeschreiber gewesen wäre«, sagte Agneta, »ich meine, dahinter steckt doch ein krankes Hirn! Dieser Mensch glaubt offensichtlich, irgendeiner höheren Gerechtigkeit zu dienen, wenn er uns tötet. So sehr ich grüble, ich kenne einfach niemanden, dem ich derart perverse Gedanken zutrauen würde.«
»Meinst du, wir sollten zur Polizei gehen?«, fragte Clara.
Agneta zögerte. »Ich habe mit meinem Mann darüber gesprochen. Der rät ab, weil er meint, die könnten sowieso nichts machen, und am Ende hätte ich nur noch die Presse am Hals.« Sie grinste. »Was er natürlich in Wahrheit fürchtet, ist, dass er die Presse am Hals hat, und in seiner Position
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