Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
nebulösen Flecken in der Vergangenheit darstellen.
Dieser Glaube erlosch, unwiderruflich und für immer. Wolf setzte die Kinder ab, am Ende eines Sonntags, an dem er seine Frau von morgens bis abends allein gelassen hatte, und er hielt es nicht einmal für notwendig, auszusteigen und ihr persönlich zu erklären, weshalb er nun auch den Abend über nicht daheim sein würde. Er überließ es den Kindern, dies auszurichten.
Ich bin ihm gleichgültig. Meine Empfindungen sind ihm gleichgültig. Es gibt nichts mehr, gar nichts mehr, was ihn an mich bindet.
Sie hatte für die Kinder ein Abendessen zubereitet, selbst
aber daran nicht teilgenommen. Alles, was sie tat, geschah wie in einer Art Trance. Sie hängte die nassen Sachen zum Trocknen auf, goss die Blumen auf dem Balkon, lief die gewohnte Abendrunde mit Kenzo und plauderte dabei kurz mit einer anderen Hundebesitzerin, ohne hinterher zu wissen, was sie beide gesagt hatten. Sie schickte die Kinder ins Bett, saß noch eine Weile auf der Terrasse und rauchte zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder ein paar Zigaretten; sie hatte sich das Päckchen aus dem Automaten geholt, als sie mit Kenzo spazieren ging. Um elf Uhr ließ sich Wolf noch immer nicht blicken. Karen ging ins Bett, konnte aber nicht einschlafen. Sie lag hellwach, starrte aus weit offenen Augen in die Dunkelheit. Es war vorbei. Zwischen ihr und Wolf war es vorbei, und für sie ging es nun darum, Schritte zu finden, die es ihr ermöglichten, ihre Selbstachtung zu behalten. Oder wiederzubekommen. Viel schien davon nämlich nicht mehr da zu sein.
Als sie ihn an der Haustür hörte, richtete sie sich auf und blickte auf die Leuchtanzeige des Radioweckers. Es war fast halb drei. Mit ziemlicher Sicherheit hatte er nicht so lange im Büro gesessen. Ihr war kalt, aber sie hatte – und das war neu – nicht das Bedürfnis, mit ihm zu reden. Ihn zu fragen, wo er gewesen war, ihn zu fragen, weshalb er ihr kein Wort über seinen verplanten Abend gesagt hatte. Sie hatte kein Bedürfnis, noch irgendetwas mit ihm zu klären. Sie stellte sich schlafend, als er ins Zimmer kam und sich neben sie legte. Er bewegte sich außerordentlich leise und vorsichtig. Offensichtlich hoffte er, ohne Gespräch davonzukommen.
Auch am nächsten Morgen beim Frühstück erwähnte sie mit keinem Wort den vergangenen Abend und hatte den Eindruck, dass dies eine leise Irritation in ihm auslöste, aber das war ihr egal. Sie verfolgte mit ihrem Verhalten keinerlei Strategie mehr.
Am Montagabend erschien Wolf wiederum erst, als Karen schon schlief. Aber auch am Dienstagmorgen sprach sie diesen Umstand nicht an. Wolf schien ein wenig beunruhigt.
Als er gefahren war und die Kinder in die Schule verschwunden waren, ging Karen daran, das Gästezimmer für sich herzurichten.
Es war ein sehr kleines, aber gemütliches Zimmer unter dem Dach, mit schrägen Wänden, einer geblümten Tapete und einem Gaubenfenster, aus dem man über die Nachbargärten bis zum nahen Waldrand sah. Direkt nebenan lag ein grün gekacheltes, winziges Bad. Karens Mutter hatte einmal hier oben gewohnt, und dieses Logieren unter dem Dach hatte zu den wenigen Dingen in ihrem Leben gehört, über die sie nicht nörgelte.
Karen verbrachte den Vormittag damit, ihre Kleider nach oben zu tragen und in den Schrank zu räumen, ihre Kosmetikartikel im Bad zu verstauen, das Bett zu beziehen und die Bücher, an denen sie besonders hing, darum herum zu stapeln. Zwei Blumenaquarelle, die sie vor einigen Monaten gemalt hatte – als ich glaubte, Kreativität würde mir aus meinen Depressionen heraushelfen, dachte sie bitter –, hängte sie im Schlafzimmer ab und oben in ihrem neuen Reich auf. Sie wischte noch ein wenig Staub, stellte einen Strauß Rosen auf den Tisch und ließ die heiße Sommerluft durch das weit geöffnete Fenster hereinfluten. Sie sah sich um und fand, dass das Zimmer zu ihr passte. Es war ein erster Schritt, hier oben einzuziehen. Ein erster Schritt auf einem Weg, der, wie ihr schwante, noch lang und steinig und von zahlreichen Rückschlägen begleitet sein würde.
Es geht um nichts weniger als um deine Selbstachtung, rief sie sich ins Gedächtnis.
Sie überlegte, was sie als Nächstes tun sollte; es war wichtig, jetzt zu agieren, nicht in einen Leerlauf zu fallen.
Ich könnte im Reisebüro anrufen und mich erkundigen, ob wir ein wenig Geld zurückbekommen, wenn ich kurzfristig von unserem Urlaub zurücktrete, überlegte sie. Seltsamerweise hatte sich das
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