Der fremde Sohn (German Edition)
jemals stark genug sein würde, sich mit diesen Dingen zu befassen. Es ging ja nicht allein darum, dass er tot war. Sie hatte es oft genug mit Hinterbliebenen zu tun gehabt, um zu wissen, dass eines Tages wieder so etwas wie Normalität einkehrte. Nein, es ging vielmehr darum, dass ihr Sohn nicht hätte sterben müssen, wenn sie oder Brody besser auf ihn achtgegeben hätten. Wenn sie sich nur im Geringsten dafür interessiert hätten, mit wem er Umgang hatte und wie sein Alltag aussah, dann, dessen war sich Carrie ganz sicher, wäre er noch am Leben. Sie konnte es einfach nicht ertragen, dass sie beide so blind gewesen waren.
»Fahr noch mal zu der Siedlung, wo dieses Mädchen wohnt. Ich will mit ihr reden.«
»Carrie, ich finde –«
»Schön, dann fahre ich eben selbst.«
»Das wäre keine gute –«
»Leah«, unterbrach Carrie ihre Freundin mit schneidender Stimme. »Weißt du noch, als wir auf der Uni waren und mein Vater starb?«
Leah umfasste das Lenkrad fester, während sie sich durch den dichten Verkehr quälten. »Ja. Du hast nach der Beerdigung völlig neben dir gestanden. Hast so getan, als ob dir das alles nichts ausmachte.«
»Und meinen Vater habe ich nicht einmal geliebt.«
»Du hattest eben Probleme.« Leah fuhr ein Stückchen vor. »Ich habe dir damals ein wenig geholfen klarzukommen.«
»Ja, das stimmt.« Carrie hatte sich Leah zugewandt und redete eifrig auf sie ein: »Nächtelang hast du bei mir gesessen und mit mir über meine Kindheit geredet. Du wolltest mir helfen herauszufinden, was ich falsch gemacht hatte und warum mein Vater alles tat, um mich zu ignorieren.« Sie berührte Leahs Hand. »Dann bist du mit mir an all die Orte gefahren, wo wir gewohnt hatten. Du hast uns sogar Zutritt zu dem alten Haus auf dem Militärstützpunkt verschafft. Mensch, weißt du noch, wie wir zu diesem Caravanstellplatz in Wales gefahren sind?«
»Aber du hattest nichts falsch gemacht, Carrie«, erwiderte Leah und trat auf die Bremse. »Das ist dir doch mittlerweile klargeworden.«
Ein Jahr Therapie hatte bewirkt, dass in Carries Leben wieder etwas Frieden einkehrte und sie wenigstens ansatzweise den Schaden überwand, den ihr pedantischer Vater in ihrer Seele angerichtet hatte.
»Ja, ja, genau. Aber verstehst du denn nicht, Leah? Jetzt ist es doch dasselbe. Nur dass ich diesmal wirklich etwas falsch gemacht habe.« Ohne Leahs Kopfschütteln zu beachten, fuhr Carrie fort: »Und ich glaube, wenn es mir nicht gelingt, den Dingen auf den Grund zu gehen, will ich nicht mehr leben.«
Carrie wusste, dass Leah sie nicht verstand, auch wenn sie klug genug war, keine Einwände zu erheben. Am Ende stimmte sie Carrie zu, dass es nicht schaden könne, noch einmal durch diese Siedlung zu fahren und das Mädchen zu suchen oder herauszufinden, wo es wohnte. Die Fahrt durch die tristen Straßen dauerte recht lang, auch wenn es nur zwei oder drei Kilometer waren.
»Schau sie dir nur an«, flüsterte Carrie, als sähe sie diese abgerissenen Jugendlichen zum ersten Mal. Dabei saßen in ihrer Show fast jede Woche solche Gestalten. »Sieh sie dir genau an.«
»Es sind ganz normale Kids, Carrie. Menschen wie du und ich, nur dass sie in ihrem bisherigen Leben weniger Glück hatten. Das ist doch nicht ihre Schuld.«
Carrie ärgerte sich über Leahs Worte. Es war das erste Mal seit Max’ Tod, dass sie etwas anderes empfand als Schmerz. »Das hat doch nichts mit Glück zu tun, Leah. Wie kannst du so etwas sagen?« Etwas Ähnliches hatte sie schon oft in ihrer Show von sich gegeben, das letzte Mal gegenüber einer niedergeschlagenen Frau, die jammerte, weil sie fünf Kinder von verschiedenen Männern bekommen hatte, das erste mit fünfzehn.
»Schließlich ist es keine Frage des Glücks, ob man die Beine breit macht, oder?«, hatte Carrie gekontert, als die fünffache Mutter behauptet hatte, Frauen wie Carrie hätten eben einfach Glück. »Und es liegt auch nicht am mangelnden Glück, dass Sie ständig die Schule geschwänzt haben, Ihre Kinder vernachlässigen und sich nicht aufraffen können, auch nur den kleinsten Job anzunehmen, um für sich selbst zu sorgen. Ein Glück ist es allerdings«, hatte Carrie, wie sie sich jetzt mit einem Anflug von Reue erinnerte, hinzugefügt, »dass ich keinen Gedanken mehr an Sie und Ihren Drogendealer-Freund verschwenden muss, sobald Sie dieses Studio verlassen haben. Sie hingegen, meine Liebe, werden all das für den Rest Ihres Lebens nicht mehr los.«
Die Zuschauer waren
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