Der fremde Sohn (German Edition)
aufgesprungen, Buhrufe und Applaus ertönten, und Carrie war sich, wie so oft, nicht sicher, ob die Buhrufe ihr galten, weil sie so grob mit ihren Studiogästen umging, oder den Gästen, weil sie ihr Leben nicht in den Griff bekamen. Im Grunde war es ihr auch egal, denn sie war dickfellig wie ein Nashorn. Wenn die Zuschauer im Studio so mitgingen, dann taten es auch die vor den Bildschirmen, und nur darauf kam es an. Das war eben Showbusiness.
»Ungefähr hier war es.« Carries Stimme war nur ein Flüstern, denn ihr Hals tat weh, als sei er entzündet, und jedes Geräusch schmerzte in ihren Ohren. »Da drüben bei dem Baum haben wir sie gefunden.«
Leah fuhr an der Stelle vorbei, doch außer ein paar sehr kleinen Kindern, die mit einer leeren Chipstüte und einem Stock spielten, war niemand zu sehen.
»Wir könnten die Kinder dort nach ihr fragen«, schlug Leah vor und fügte hinzu: »Die sollten gar nicht allein hier draußen sein. Sie sind noch so klein, und es wird schon bald dunkel.« Sie ließ das Fenster herunter und rief: »Hallo! Weiß einer von euch, wo ein Mädchen namens Dayna wohnt?«
Vier Augenpaare starrten sie ausdruckslos an. Sie gehörten drei Jungen und einem Mädchen, alle zwischen drei und sechs Jahren alt. Das Mädchen fuchtelte mit dem Stock in der Luft herum, und Leah fürchtete schon, sie werde damit die Tür des Mercedes verkratzen.
Carrie beugte sich über Leah hinweg und sagte: »Hier in der Nähe wohnt ein Mädchen, das Dayna heißt. Ich gebe euch fünfzig Pfund, wenn ihr mich zu ihrem Haus bringt.«
Das Mädchen kam näher. »Ich weiß, wo sie wohnt.« Sie hatte eine Kleinkindstimme, und ihre kirschroten Lippen brachten die Wörter nur mühsam hervor.
»Dann steig hinten ein«, rief Carrie.
»Das können wir doch nicht machen, Carrie!«, protestierte Leah entsetzt, als das kleine Mädchen tatsächlich die Wagentür öffnete und auf die lederbezogene Rückbank krabbelte, noch immer den Stock in der Hand.
»Wohin?«, fragte Carrie nach hinten gewandt. Das Mädchen zeigte mit dem Finger geradeaus und stupste dann gegen die Decke des Wagens. Als sie sah, wie ihre Freunde auf ihren Rädchen neben dem Auto herfuhren, quietschte sie vor Vergnügen. »Noch weiter? Weißt du die Adresse oder die Hausnummer?« Plötzlich kamen ihr Zweifel, ob das Kind sie wirklich verstand.
»Da drüben«, sagte die Kleine unvermittelt.
»Da wohnt Dayna?«, fragte Carrie und zeigte auf ein Haus. Das Mädchen nickte und beugte sich zwischen den Vordersitzen nach vorn. Ihr Atem roch widerlich süß nach dem schmuddeligen Kaubonbon, das sie in der Hand hielt.
Leah stellte den Wagen ab und fragte Carrie ungläubig: »Willst du etwa da reingehen?«
»Sicher.« Carrie drehte sich um und wollte dem Kind danken und ihm das Geld geben, doch die Kleine kletterte schon aus dem Wagen. Sie waren nur wenige Hundert Meter von der Stelle entfernt, wo sie sie getroffen hatten. »Muss ich allein gehen?«
Leah seufzte. »Nein, natürlich nicht, auch wenn mir nicht klar ist, was du damit eigentlich bezweckst.«
Carrie stieg wortlos aus. Das kleine Mädchen war verschwunden. Offenbar konnte es mit Geld noch nicht viel anfangen. An der Vorderseite des Hauses lehnten mehrere Gegenstände an der Wand, die wie eingewickelte Blumensträuße aussahen. Carrie zog das Papier von einem ab und schnappte erschrocken nach Luft.
»O Gott, sieh dir das an«, stieß sie hervor.
Leah schloss den Wagen ab und ging zu Carrie. »Was ist denn?«, fragte sie und warf einen Blick auf den in Zeitungspapier gewickelten Strauß. Darin steckten nur kahle Stängel, die Blüten waren alle abgeschnitten. Leah legte den Arm um Carrie und sagte: »Das hat nichts mit Max zu tun. Du bist zurzeit einfach überempfindlich.«
»Du bist die Nächste«, las Carrie den Zettel, der am Papier klebte. »Was soll das heißen?« Sie fühlte sich, als sei sie unter Wasser, auf dem Mond, tot … wo auch immer, jedenfalls nicht im wirklichen Leben.
Leah griff nach dem zweiten Päckchen. Als sie es öffnete, kamen Brennnesseln und Unkraut zum Vorschein, umwickelt mit nassem, stinkendem Toilettenpapier. »Nett«, sagte Leah betont gleichmütig und rieb die Handflächen aneinander. »Das ist bestimmt nur ein Dummejungenstreich.«
Carrie schloss die Augen. Am liebsten hätte sie den Zettel zerfetzt, doch da ihr klar war, dass er für Dennis wichtig war, steckte sie ihn behutsam in ihre Tasche.
»Carrie, ich finde, wir sollten nicht …« Leah verstummte, denn
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