Der fremde Sohn (German Edition)
das gemeint?
»Hier herein, bitte«, sagte Jess und hielt die Tür zu einem Raum auf, der größer war als das ganze Erdgeschoss bei Dayna zu Hause. »Nimm Platz, die anderen kommen auch gleich. Wir müssen noch einmal alles durchgehen, was … du weißt schon, was passiert ist.«
Dayna musterte wortlos die schmale Frau mit dem Funkgerät am Gürtel und dem glänzenden Goldkettchen um den schlanken Hals. So wie sie wollte sie später auch gern sein. Vielleicht war sie ja nicht intelligent genug, um Polizistin, Krankenschwester oder Stewardess zu werden, doch sie hatte sich von klein auf immer gewünscht, einmal eine starke, selbstbewusste Frau zu werden, eine erfolgreiche Frau, bei deren Anblick andere dachten: So möchte ich auch sein.
»Darf ich eine rauchen?«
Jess öffnete das Fenster. »Aber lehn dich raus.«
Verlegen stand Dayna mitten im Zimmer und klopfte ihre Jackentaschen ab. »Ich hab keine Zigaretten«, sagte sie und verzog das Gesicht.
Da ging Jess zu einem Schreibtisch, der an der Wand stand, und kramte in den Schubladen, bis sie eine Schachtel fand.
»Fang!« Sie warf Dayna die Packung und eine Streichholzschachtel zu.
Dayna steckte sich eine Zigarette an und beugte sich so weit wie möglich aus dem Fenster. Glücklicherweise befanden sie sich im Erdgeschoss.
Die Bullen wollten sie nur wegen Freitag befragen. Sie brauchte ihnen bloß zu erzählen, was passiert war, dann würden sie sie wieder gehen lassen, die Polizei würde sich um alles Weitere kümmern, und alles wäre wieder in Ordnung. Außer dass Max immer noch tot war und ihr Leben ohne ihn wieder beschissen sein würde. Ihr kamen die Tränen, aber Jess bemerkte es nicht.
Blöde Kuh, hör auf, ermahnte sie sich im Stillen, die Zigarette zwischen den bebenden Lippen. Sag ihnen, was passiert ist. Erzähl ihnen die ganze Geschichte.
War das wirklich so schwer? Wollte sie denn nicht, dass diese Mistkerle eingesperrt wurden? Max hätte gewollt, dass sie ins Gefängnis kamen. Sie hatten es verdient.
»Komm, fangen wir an.« Als Dayna eine Hand an ihrem Rücken spürte, nahm sie einen letzten Zug und warf dann die Kippe auf den Rasen vor dem Fenster.
Jess setzte sich an den Tisch, der mitten im Raum stand, und wies auch ihr einen Platz zu. Kurz darauf kam Dennis mit zwei weiteren Männern herein. Einen von ihnen erkannte Dayna, er war bereits bei ihr zu Hause gewesen.
»Wie ich sehe, lässt du dir unsere Spitzenplörre schmecken«, sagte Dennis.
Niemand lachte.
»Es geht schon«, antwortete Dayna. Eigentlich schmeckte ihr der Kakao gar nicht so schlecht, auch wenn er noch immer zu heiß war. Noch ein kleiner Trost, neben den Zigaretten.
»Wir werden dieses Gespräch aufzeichnen, Dayna, und deine Aussage schriftlich festhalten.« Dennis blickte in die Runde.
»Ja, von mir aus.«
»Es wird dir vorkommen, als ob wir immer wieder das Gleiche fragen, aber wir sind an einem so wichtigen Punkt der Ermittlungen angelangt, dass wir jetzt nicht den kleinsten Fehler machen wollen.«
Das wollte Dayna auch nicht. Die ganze Sache durfte nicht im Sande verlaufen, diese Kerle sollten auf keinen Fall ungeschoren davonkommen. Hier ging es ja nicht mehr um Mobbing. Mobbing, das wusste Dayna, war ein ständiges Thema in der Schule. Es gab diesbezüglich Regeln, und die Eltern der Grundschulkinder sprachen zunächst ständig darüber, doch wenn ihre Kinder auf die weiterführende Schule gingen, sahen sie oftmals weg. Mobbing, das bedeutete, dass ein Kind mit zerrissenem Pullover nach Hause kam oder sein Essensgeld angeblich wieder einmal verloren hatte. Dann gab es eine Unterredung mit dem Schulleiter und die Beteuerung, es handele sich nur um eine vorübergehende Phase und werde sich von selbst geben.
Dabei hatten sie und Max nichts Schlimmes getan. Nur geredet, geraucht und ein bisschen geknutscht. Sie waren einfach Freunde gewesen … oder so.
»Ich werde Ihnen helfen, so gut ich kann«, erklärte sie so laut, dass die Detectives von ihren Unterlagen aufblickten. »Ich will, dass Sie sie kriegen.« Sie trank einen Schluck Kakao. Für Automatenplörre schmeckte er richtig gut.
Carrie konnte nicht nach Hause zurück. Dort war nicht mehr ihr Platz, denn dort warteten Max’ Sachen auf sie: das Essen, das er in den Kühlschrank gestellt hatte, seine Zahnbürste im Bad, seine Jacke und sein zweites Paar Turnschuhe in der Eingangshalle, sein Fahrrad in der Garage. Darum musste sich Martha kümmern, denn Carrie konnte sich nicht vorstellen, dass sie
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