Der fremde Sohn (German Edition)
es, sich damit abzufinden, dass es kein Heilmittel gibt und dass die Krankheit früher oder später unweigerlich zur Erblindung führt.«
»Wollen Sie damit sagen, dass er nichts mehr sieht? Absolut gar nichts?« Carrie sah abwechselnd den Augenspezialisten und ihren Mann an und blinzelte.
»Soweit ich feststellen konnte, besteht im linken Auge noch ein minimaler peripherer Sehrest, rechts jedoch praktisch nichts mehr. Würden Sie mir da zustimmen, Herr Professor Quinell?«
Doch Brody war aufgestanden und ging mit ausgestreckten Armen vorsichtig durch den Raum. Dabei hatte er – wie Carrie es in letzter Zeit öfter an ihm gesehen hatte – den Kopf leicht zur Seite geneigt, um das letzte bisschen Sehfähigkeit, das er noch besaß, zu nutzen. Er stieß gegen eine Säule mit einer Zimmerpflanze, griff danach, verfehlte sie jedoch. Blumenerde rieselte auf den hellen Teppich. »Ich kann noch ganz gut sehen«, tönte er und setzte dann leiser hinzu: »Das Problem haben die anderen.«
Mittwoch, 29. April 2009
A m nächsten Morgen flog Clive Carrie und Brody zurück nach London. Aus Respekt gegenüber seiner Arbeitgeberin trug der Pilot eine schwarze Krawatte statt der grün-goldenen mit dem eingestickten Reality-Check -Logo. Er sprach während des Fluges wenig und konzentrierte sich darauf, sie sicher durch die Sturmfront zu bringen, die sie bis zur Hauptstadt begleitete. Als er den Hubschrauber gelandet und den Motor abgestellt hatte, holte Clive zwei Regenschirme für seine Passagiere hervor.
»Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann, lassen Sie es mich wissen«, sagte er ernst, als sie in der Abfertigungshalle standen.
»Vielen Dank, Clive«, erwiderte Carrie. Es war tröstlich zu wissen, dass sie sich in dieser schweren Zeit auf ihre Angestellten verlassen konnte. Sie wies ihren Fahrer an, sie auf dem schnellsten Weg zu Dennis und seinem Team ins Kommissariat zu bringen.
»Ich kann es immer noch nicht fassen, dass du dich nicht nach Einzelheiten erkundigt hast, als Dennis gestern Abend anrief«, sagte sie zu Brody.
»Wir werden noch früh genug alles erfahren«, entgegnete er lakonisch.
Dabei waren es gerade die Einzelheiten, die Carrie nun aufrecht hielten. Wie konnte sich ihr Leben in so kurzer Zeit so grundlegend verändern? Normalerweise gab sie sich nicht mit Kleinkram ab. Das überließ sie anderen – ihrer Stylistin, ihrer Sekretärin, dem Produzenten, der Haushälterin.
Doch im Laufe der letzten Tage waren Details für sie geradezu zur Besessenheit geworden, und niemand konnte ihr helfen, die Informationsbröckchen zu verarbeiten, die in ihrem Hirn durcheinanderwirbelten wie nasse Wäsche in der Waschtrommel.
Auch Brody hatte sich während seines Aufenthalts in Charlbury mit Einzelheiten beschäftigt, mit Details aus ihrem Leben, von denen er nichts gewusst hatte. Es ist schon eine Ironie des Schicksals, dachte Carrie, als sie um halb vier Uhr morgens, benebelt von Tabletten und Alkohol, schlaflos im Bett lag, dass er mich nach all den Jahren so vorfindet, verloren, leer, voller Trauer. Und noch ironischer erschien es ihr, dass sie, seit sie sich kannten, einander noch nie so ähnlich gewesen waren.
»Herr Professor, Carrie«, begrüßte Dennis sie mit einem Kopfnicken und führte sie in sein kleines Büro. Dort war es so heiß und stickig, dass Carrie glaubte, keine Luft zu bekommen. Es roch nach Kaffee und ganz leicht nach Schweiß, und sie stellte sich vor, wie der Detective hier die ganze Nacht hindurch an dem Fall gearbeitet hatte. »Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte er und rückte einen zweiten Stuhl vor seinen Schreibtisch.
Nachdem sie sich gesetzt hatten, dachte Carrie an das letzte Mal, als Dennis bei ihr übernachtet hatte. Vielleicht lag es an dem männlichen Geruch im Raum, vielleicht auch an der düsteren, unwirklichen Atmosphäre. Im Grunde hatte sie Dennis nur widerwillig in ihrem Haus geduldet, auch wenn sie sich nur zu gern seines Körpers bedient hatte, um ihr Verlangen zu stillen.
Es war im Sommer gewesen, an einem unerträglich schwülen Abend, und Dennis hatte sie angerufen unter dem Vorwand, er müsse mit ihr über eine Frau sprechen, die am Freitag in Carries Show auftreten sollte. Sie waren die Einzelheiten schon tausendmal durchgegangen, doch Dennis bestand darauf, sich mit ihr zu treffen. Carrie erinnerte sich noch an das Beben in ihrer Brust, als sie ihm die Tür öffnete. Auf dem Weg in die Küche bemerkte sie, dass sein helles Hemd ihm am Rücken klebte und seine
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