Der fremde Sohn (German Edition)
diese verdammten Wunderkerzen vielleicht selbst holen?« Carrie wollte die Terrasse nur ungern verlassen, denn von hier aus hatte man einen herrlichen Blick über das parkähnliche Gelände, und außerdem sollte Max das Ereignis nicht verpassen. »Warum bist du so griesgrämig? Es ist doch Silvester.«
»Schön, ich hole die Wunderkerzen«, erwiderte Brody, drehte sich um und lief frontal gegen die große Glastür, die Nancys Wohnzimmer von der Terrasse trennte.
»Und musst du hier derartiges Aufsehen erregen? Die Leute werden denken, du bist betrunken.«
»Ich bin nicht betrunken.« Er tastete sich an der Scheibe entlang und kniff jedes Mal die Augen zusammen, wenn am Himmel eine Rakete aufflammte. Gleich darauf war er in der Menschenmenge verschwunden.
»Sie sind in der Empfangshalle«, rief Carrie ihm nach. »Da steht ein großer Korb mit Zeug für die Kinder.« Ärgerlich sagte sie zu Max: »Weißt du was, mein Schatz? Lauf doch Daddy nach und hilf ihm. Er lässt sich bestimmt von jemandem aufhalten, und du willst schließlich nicht ewig warten, nicht?«
»Ist gut, Mummy«, antwortete Max.
Carrie beugte sich zu ihm hinunter und küsste ihn auf sein Papierhütchen. »Lauf schnell hinterher, Schatz.«
Max schlängelte sich durch die Menge und hatte kurz darauf Brody eingeholt, der sich, wie Carrie sah, im Wohnzimmer mit jemandem unterhielt. Er hatte es noch nicht einmal bis zu den Wunderkerzen geschafft. Carrie beobachtete, wie Max seinen Vater an der Hand nahm und ihn weiterzog, dann drehte sie sich um und begann, mit Michelle und Jean zu plaudern, die aus Paris hergekommen waren.
»Eine wundervolle Party«, sagte Carrie. Wenn man den Klatschblättchen Glauben schenken durfte, hielt sich Michelle für die fabelhafteste aller Gastgeberinnen. Carrie war zwar noch nie auf einer ihrer Pariser Gesellschaften gewesen, doch Michelles Modestil nach zu urteilen mussten das reichlich geschmacklose Angelegenheiten sein.
»Wir haben die Wunderkerzen, Mummy«, verkündete Max strahlend und atemlos und zog seinen Vater an der Hand hinter sich her.
»Prima, Maxie, aber du darfst Mummy nicht stören, wenn sie sich unterhält.« Carrie wandte sich wieder dem französischen Paar zu. In diesem Augenblick lief Brody geradewegs in sie hinein, so dass sich ihr Drink über Michelles Mantel ergoss. »Um Himmels willen, Brody, pass doch auf. Sieh nur, was du angerichtet hast.« Trotz ihres Ärgers brachte sie ein nachsichtiges Lächeln zustande.
Max fasste seinen Vater am Arm und führte ihn zu einer freien Stelle neben ihr. Michelle verzog das Gesicht und tupfte an ihrem Mantel herum, dann machte sie sich mit ihrem Mann auf die Suche nach einem anderen Gesprächspartner.
»Da hast du’s, Brody. Sie hätten uns vielleicht nach Paris eingeladen. Ich glaube, dein Vater ist betrunken, Maxie. Was sollen wir nur mit ihm machen?« Seufzend sah sich Carrie nach jemandem um, mit dem sie plaudern konnte. Gerade explodierten knallend weitere Raketen, begleitet von den Begeisterungsrufen der Partygäste.
Max hielt sich die Ohren zu und brüllte über den Lärm hinweg: »Daddy ist nicht betrunken, er ist blind!«
»Du hast es also nicht für nötig befunden, es mir zu sagen? Dachtest du etwa, wenn du einfach schweigst und nichts unternimmst, wird alles von selbst wieder gut?«
»Läuft nicht heutzutage alles in unserem Leben so?« Brody saß steif auf seinem Stuhl. Im Wartezimmer duftete es nach Lilien, und er fragte sich, ob schon jetzt, vier Tage nachdem er sein Augenlicht verloren hatte, sein Geruchssinn schärfer geworden war. Ob er wohl hören könnte, wenn im Nebenzimmer eine Stecknadel fiel?
»Sei nicht albern. Letzte Woche bist du doch noch Auto gefahren. Ich weiß einfach nicht, wie …« Carrie verstummte, als jemand das Wartezimmer betrat und ihnen gegenüber Platz nahm. Selbstverständlich war Brody seiner Frau dankbar, dass sie ihrer Sekretärin aufgetragen hatte, beim vermeintlich besten Augenarzt Londons einen Termin für ihn zu vereinbaren, aber eigentlich wollte er sich lieber im örtlichen Krankenhaus untersuchen lassen und von den Ärzten dort hören, dass seine Sehfähigkeit in ein paar Tagen zurückkehren werde. Dass alles nur ein schrecklicher Irrtum war und er natürlich seinen Sohn aufwachsen sehen und wieder das Gesicht seiner Frau erkennen werde.
Seufzend begann Brody zu beichten. Carrie war nicht oft genug zu Hause gewesen, um zu bemerken, ob sein Wagen in der Einfahrt stand oder nicht. »Wenn es sehr
Weitere Kostenlose Bücher