Der fremde Sohn (German Edition)
hörte sie ein Klopfen an der Haustür und gleich darauf eine unbekannte Frauenstimme. Schwere Schritte kamen die Treppe herauf, dann wurde ihre Tür geöffnet, und ihre Mutter stand vor ihr. »Da ist eine von der Polizei, die will dich sprechen. Steh auf.«
Während Dayna ihrer Mutter nach unten folgte, fragte sie leise: »Wer ist es, Mum?«
Ihre Mutter drehte sich auf der Treppe um und schnappte: »Woher zum Teufel soll ich das wissen?« Damit verschwand sie kopfschüttelnd wieder in der Küche. Die Frau, die vor der Haustür stand, kam Dayna vage bekannt vor.
»Ja?«, sagte Dayna, wobei sie sich vergeblich bemühte, aggressiv zu klingen. In ihr war jeder Kampfgeist erloschen.
»Dayna, ich bin Leah Roffe. Erinnerst du dich an mich? Ich arbeite mit Carrie zusammen und würde mich gern mit dir unterhalten. Es ist wirklich sehr wichtig.«
Sie sagte ihrer Mutter nicht Bescheid, dass sie wegging. Sie würde es erst bemerken, wenn es Zeit für Dayna war, auf ihre kleine Schwester aufzupassen. Dann würde sie Lorrell eben mit einer Tüte Chips vor den Fernseher setzen.
»Du weißt doch, dass Carrie eine Fernsehshow macht?«, fragte Leah, ohne den Blick von der Straße zu wenden. Sie fuhr langsam, als habe sie kein bestimmtes Ziel, sondern wolle nur ein wenig herumkurven, um mit Dayna reden zu können.
»Ja, sicher«, antwortete Dayna.
»Sie ist am Ende, wie du dir vorstellen kannst – wir alle können es noch immer nicht fassen«, fügte Leah hinzu und fuhr fort: »Du hast sicher schon gesehen, wie sehr sich Carrie in ihrer Show für Gerechtigkeit einsetzt. Die Rechte von Menschen wie dir sind ihr ein echtes Anliegen, und sie versucht, der Polizei und den Opfern von Verbrechen zu helfen, indem sie die Fälle in ihrer Sendung vorstellt.« Auf der Straße, die aus der Siedlung hinausführte, bog Leah links ab und bremste dann, um nicht mit einer Radfahrerin zusammenzustoßen.
Dayna schwieg und dachte daran, wie sie Carrie Kent in Aktion gesehen hatte. War das Gerechtigkeit?, fragte sie sich. Half dieses ganze arrogante Getue und das Stochern in fremden Schicksalen den armen Menschen wirklich, oder ging es nicht nur um die Sendung? Dayna hatte ihre Zweifel, ob dieser Frau an etwas anderem gelegen war als an ihrem eigenen Ruhm und den Einschaltquoten. In ihrer Welt drehte sich doch alles nur um Geld.
»Und? Was hat das mit mir zu tun?«
»Carrie hat mich persönlich geschickt, um dich zu fragen, ob du in ihrer Show auftreten und der Polizei helfen möchtest, Max’ Mörder zu finden. Wenn du deine Geschichte erzählst, werden bestimmt Leute anrufen. Es wäre sicher furchtbar schwer für dich, aber –«
»Nein.«
Der Wagen schlingerte so heftig, dass sich Dayna am Türgriff festhalten musste.
»Du solltest darüber nachdenken, meine Liebe. Schließlich kanntest du Max gut und …«
Doch ihre nächsten Worte erreichten Dayna nicht mehr, denn das Mädchen wurde von einem neuerlichen Anfall von Panik und Übelkeit überwältigt. Dayna glaubte, das wütende Geschrei des Studiopublikums zu hören, und spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss angesichts des Zorns, der ihr entgegenschlug. Sie stellte sich vor, wie Carrie Kent ihr unerbittlich auf den Leib rückte, bis ihr Gesicht nur noch wenige Zentimeter von ihrem entfernt war. Wie sie auf sie einredete und nicht locker ließ, bis Dayna nichts mehr übrigblieb als aufzustehen und die Wahrheit zu bekennen.
»Es gab eine Verhaftung …« Leahs Worte rauschten an Dayna vorbei. »Aber sie mussten ihn wieder laufen lassen … Max würde wollen, dass du das für ihn tust, meine Liebe. Wir richten eine spezielle Hotline ein. Carrie ist auf deiner Seite – sie wird dir Fragen stellen, und du brauchst nur zu erzählen, was geschehen ist, wie du dich dabei gefühlt hast und wie du Max zu helfen versucht hast. Ich bin sicher, die Telefone werden heißlaufen, und irgendjemand liefert uns genau die Infor–«
»Aufhören!«, schrie Dayna, krümmte sich zusammen, so weit ihr Sicherheitsgurt es zuließ, und verbarg das Gesicht in den Händen.
»Ich wollte dich nicht aufregen, Dayna.« Leah hielt an einer Bushaltestelle und stellte den Motor ab.
Widerstrebend hob Dayna den Kopf. Sie wünschte, sie könnte weinen, Rotz und Wasser heulen, damit sie kein Wort mehr zu sagen brauchte. »Ich weiß nichts, klar?«, stieß sie endlich hervor. »Ich weiß nicht, wer Max umgebracht hat, und ich weiß auch nicht, was ich im Fernsehen sagen soll.«
Leah legte ihr die Hand auf
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