Der fremde Sohn (German Edition)
schlimm war, habe ich ein Taxi oder den Bus genommen. Es ist eben einfach immer schlimmer geworden, verstehst du? Warten wir doch ab, was der Doktor sagt.« Brody scharrte mit den Füßen auf dem Boden, der sich anfühlte wie glänzende Fliesen. Heute konnte er auch die vagen Umrisse seiner Füße nicht mehr erkennen, und die Welt um ihn herum erschien ihm nicht einmal mehr als das verblassende Bild, an das er sich im Laufe der vergangenen Monate gewöhnt hatte. Anfangs hatte er sich nichts dabei gedacht, sondern war nur irritiert gewesen, weil es so früh dunkel wurde und er das Gefühl hatte, als habe jemand im Zentrum seines Gesichtsfeldes einen Vorhang zugezogen. Und dann diese Schlieren vor den Augen – aber in seinem Alter brauchte schließlich jeder eine Brille, nicht wahr? »Wenn der Kerl es nicht hinkriegt, gehe ich auf der Stelle ins nächste Krankenhaus.«
»Das ist ja alles schön und gut, Brody, aber –«
»Professor Quinell, bitte«, ertönte die leise Stimme der Arzthelferin.
Als Brody aufstand, schwankte er ein wenig, und so war er froh, als Carrie ihn am Arm fasste und ihn, ein wenig zu schnell für seinen Geschmack, aus dem Wartezimmer führte. Es fiel ihm nicht leicht, jemandem bedingungslos zu vertrauen, nicht einmal seiner eigenen Frau. Er hörte, wie sie ein paar Worte mit der Arzthelferin wechselte, über das klare Wetter und den angekündigten Schnee, und er fragte sich, ob die Welt im Schnee für ihn ein klein wenig heller sein würde.
Nach zwei Stunden, in denen Brody ein ausgedehntes und unangenehmes Elektroretinogramm über sich ergehen lassen musste, stand die Diagnose fest.
»Ich fürchte, ich habe keine guten Nachrichten für Sie«, sagte Mr Cleveland und überflog die Untersuchungsergebnisse, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen. »Wir müssten noch einige Blutuntersuchungen vornehmen, um zu bestimmen, welche genetischen Faktoren beteiligt sind, aber die Anzeichen sprechen dafür, dass Sie an einer Sehstörung leiden, die man als Chorioideremie bezeichnet, Herr Professor.«
»Wie wird das behandelt?«, fragte Carrie sofort. »Tropfen oder Tabletten oder was?« Es war wirklich lästig. Bis er wieder sehen konnte, würde sie eine Hilfe einstellen und zu Hause einiges anpassen müssen. Im Grunde hatte sie keine Zeit für solche Dinge, und sie ärgerte sich im Stillen über Brody, dass er es mit dieser Störung so weit hatte kommen lassen.
»Ich fürchte, es gibt keine Therapie. Es handelt sich um eine fortschreitende Erkrankung, die durch die Mutter vererbt wird und in den Genen verankert ist.«
»Siehst du«, bemerkte Carrie. »Wenn du früher etwas gesagt hättest, dann hätte man etwas dagegen tun können.«
»Nein, Sie irren sich.« Mr Clevelands Stimme klang geduldig, aber bestimmt. »Die Erkrankung ist leider zu keinem Zeitpunkt heilbar. Wer daran leidet – und das sind fast ausschließlich Männer –, erblindet in der Regel im jüngeren oder mittleren Lebensalter. Der genetische Defekt wird über die mütterliche Linie an die männlichen Nachkommen weitergegeben.«
Sofort dachte Carrie an Max.
»Da Männer an ihre Söhne kein X-Chromosom vererben, besteht für Ihren kleinen Sohn keine Gefahr. Wenn Sie allerdings eine Tochter hätten oder falls Sie sich weitere Kinder wünschen, müsste das Risiko in Betracht gezogen werden.«
Carrie schwirrte der Kopf. Sie hatte schon lange nicht mehr über ein zweites Kind nachgedacht. Reality Check lief erst seit wenigen Monaten, doch Carries Ruhm wuchs bereits. Sie wollte die Show weiter ausbauen, reisen – all das bedeutete, dass sie viel unterwegs sein würde. Es war bereits in der Diskussion, die Show unbefristet laufen zu lassen. Da kamen weitere Kinder gar nicht in Frage.
»Wir werden keine weiteren Kinder bekommen«, sagte sie.
Brody fuhr herum. »Das ist also beschlossene Sache, ja?«, fragte er kalt.
»Herr Professor Quinell, Sie werden sich mit einigen größeren Veränderungen in Ihrem Leben arrangieren müssen. Offen gesagt ist es mir unverständlich, wie Sie bis jetzt ohne Hilfe ausgekommen sind. Ihre Sehkraft muss doch schon seit einiger Zeit stark beeinträchtigt gewesen sein.«
Als Brody bedächtig nickte, fasste Carrie seine Hand. Sie hatte solches Mitleid mit ihm – und mit sich selbst. Das alles hätte zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt kommen können.
»Es ist nicht ungewöhnlich, dass Menschen, die an Chorioideremie erkrankt sind, ihr Leiden anfangs nicht wahrhaben wollen. Besonders schwer ist
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