Der fremde Sohn (German Edition)
die Schulter und sagte: »Hier, nimm meine Karte. Ruf mich an, wenn du es dir anders überlegt hast. Die Show ist für übermorgen angesetzt. Ich weiß, es ist viel verlangt, aber …«
Die Worte hallten in Daynas Kopf wider. Sie wollte nur noch weg. Mit einem Blick aus dem Fenster stellte sie fest, dass sie im Kreis gefahren und nur eine Straße von ihrem Haus entfernt wieder angekommen waren. Ohne es eigentlich zu wollen, riss sie der Frau die Karte aus der Hand, dann sprang sie aus dem Auto. Sie rannte und rannte, fort aus der Siedlung, fort von der Schule, hinunter zum Bach und auf dem Schleichweg durch das Gewerbegebiet bis zu Max’ Bude. Dort angekommen, lehnte sie sich keuchend an die morsche Bretterwand. Als zwei Züge unmittelbar nacheinander über die Brücke donnerten, fuhr sie vor Schreck zusammen und begann hysterisch zu schluchzen.
Was sollte sie nur tun?
Fiona spürte seine Qual. Der Schmerz bohrte sich in ihre Eingeweide, stellte ihr ganzes Leben auf den Kopf, als sei es ihr eigener. Hilflos musste sie mitansehen, wie der Mensch, den sie liebte, litt. Sie trennte eine Glaswand, die so dick war, dass er nicht hörte, wie sie mit den Fäusten dagegen trommelte, und er sah nicht, wie ihre Lippen sich zu einem stummen Schrei öffneten. Wie auch, da er doch blind war und nicht wusste, dass sie ihn liebte. Sie fühlte sich so entsetzlich hilflos in dem grenzenlosen Mitleid, das sie für Brody empfand.
In den fast zehn Jahren, seit sie für den Professor arbeitete, war er nur ein einziges Mal bei ihr zu Hause gewesen, und das lag schon Jahre zurück. Damals waren sie auf dem Weg zum Flughafen gewesen. Fiona hatte Brody in seiner elenden Behausung abgeholt und fuhr mit ihm nach Heathrow. Sie plante gern reichlich Zeit für Verkehrsstaus, Autopannen und dergleichen ein, auch wenn so etwas noch nie vorgekommen war. Bis zu jenem Tag.
»Halt!«, brüllte Brody plötzlich und schlug mit der Faust aufs Armaturenbrett. Auf einer normalen Landstraße hätte Fiona eine Vollbremsung gemacht wie bei der Fahrprüfung, doch da sie sich auf der Autobahn befanden, konnte sie nur auf die rechte Spur wechseln und lediglich so stark abbremsen, dass der nachfolgende Wagen nicht auffuhr.
»Was ist denn los, um Himmels willen?«, fragte sie. Nachdem sie schon zwei Jahre für den Mathematikprofessor gearbeitet hatte, glaubte sie ihn recht gut zu kennen, aber so hatte sie ihn noch nie erlebt.
»Ich kann nicht nach Boston fliegen«, sagte er.
»Warum nicht?« Fiona fuhr auf die Standspur. Sie näherten sich gerade einer Ausfahrt, und wenn dies ein echter Notfall war, mussten sie die Autobahn schnellstmöglich verlassen.
»Max hat ein Schulkonzert.«
»Was?« Das musste ein Scherz sein. Fiona verdrehte die Augen und beschleunigte, um sich wieder in den Verkehr einzufädeln. Doch es fand sich keine Lücke im stetigen Strom der Autos.
»Ich will, dass du umkehrst und mich nach Hause bringst. Oder besser noch, wir fahren zu deiner Wohnung. Die ist näher dran, und ich kann von dort aus in der Schule anrufen. Wie wir den Rest organisieren, können wir uns überlegen, wenn wir dort sind.«
»Aber du bist der Hauptreferent. Die meisten Teilnehmer kommen überhaupt nur, um dich zu hören. Und außerdem bist du der Ehrengast beim Bankett am Samstag.« Fiona war zutiefst enttäuscht. Fünf Tage mit Brody in einem Hotel, da hätte sich bestimmt etwas ergeben. Er hatte doch wohl genug für sie übrig, um beim Dinner die Hand auf ihre zu legen oder ihr am Abend einen Gutenachtkuss zu geben, sei es auch nur als kleines Dankeschön. Eine solche Geste wäre ihr schon Ansporn genug gewesen.
»Ich habe einen Fehler gemacht. Max geht vor.« Für einen Mann, der gerade seinen Ruf aufs Spiel setzte, war Brody bemerkenswert ruhig, dachte Fiona.
»Ruf doch einfach in der Schule an und frag, wann es das nächste Konzert gibt. Dann kannst du ja hingehen.«
»Bring mich zu deiner Wohnung, Fiona. Und wenn du das nicht willst, fahr mich bitte nach Hause.« Er wirkte vollkommen vernünftig, als habe er sich nur gerade entschlossen, doch nicht einkaufen zu gehen.
Fiona konnte sich ihm nicht widersetzen, schließlich war er ihr Chef, und sie hatte zu tun, was er verlangte. Selbst wenn das bedeutete zuzulassen, dass er seine Karriere ruinierte. Sie bedauerte es zutiefst, dass sie nun keine Gelegenheit bekam, während des langen Fluges in die USA mit Brody persönliche Gespräche zu führen, ihm in seinem Hotelzimmer beim Auspacken zu helfen und
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