Der fremde Sohn (German Edition)
ist? Sie isst kaum noch was und muss jeden Tag brechen, ist es nicht so, Schatz?«
»Mmm«, machte Dayna. Sie wollte das alles einfach nur hinter sich bringen, die Fahrt ins Studio, die grellen Scheinwerfer und Carrie Kent mit ihren schicken Klamotten und ihren gnadenlosen Fragen. Sie würde vor den Augen der johlenden Menge in Stücke gerissen und ihnen dann, blutend und geschunden, vor die Füße geworfen werden, so wie es Max widerfahren war.
Warum hatte sie sich nur darauf eingelassen?
Weil sie es nicht anders verdiente.
Als es an der Tür klopfte, kletterte Lorrell von ihrem Stuhl und lief hin, um aufzumachen. Dayna warf einen Blick in die Diele und sah einen schwarz gekleideten Mann mit Mütze. Er beugte sich zu Lorrell hinunter und sprach mit ihr. Gleich darauf kam die Kleine wieder in die Küche getrabt und verkündete: »Der Mann bringt einen Wagen für Dayna.« Ihre Stimme bebte vor Aufregung, und sie verschüttete ein wenig von ihren Frühstücksflocken.
»O nein«, rief Dayna. »Er ist zu früh.« Sie sprang vom Tisch auf und rannte an dem Mann vorbei, der noch immer in der Haustür stand.
»Noch zehn Minuten, Miss!«, rief er ihr nach. »Ich warte draußen.«
Dayna lief hinauf in ihr Zimmer, um sich zum dritten Mal umzuziehen, womit die Möglichkeiten ihrer Garderobe endgültig erschöpft waren. Eine Jeans erschien ihr nicht ganz passend, aber sie besaß kaum etwas anderes. Also zog sie rasch die abgewetzte Stoffhose an, dazu ein frisches T-Shirt und darüber ihre dunkle Jacke. So sah sie einigermaßen aus, dachte sie. Ganz normal eben.
Was auch immer das bedeutete.
Sie verstand nicht, warum alle Welt sie anders sah. Hassten sie sie vielleicht deshalb so sehr, weil sie sich im Laufe der Jahre das Haar mit allem Möglichen gefärbt hatte, von Stiefelwichse bis zu Haushaltsbleiche? Oder lag es daran, dass sie sich selbst mehr als ein Dutzend Mal die Ohren durchstochen hatte, manchmal, wenn alles besonders schlimm war, sogar mit einer Zirkelspitze auf dem Klo? Vielleicht war aber auch der blaue Nagellack schuld oder die vielen Armreifen oder die Art, wie sie lächelte oder roch oder redete oder lachte oder weinte, so wie jetzt gerade.
»Schluss damit, du blöde Kuh!«, schalt sie sich selbst, stopfte sich ein paar Kleenex in die Tasche, schnappte sich ihr Handy und lief die Treppe hinunter. »Ich geh dann, Mum!«, rief sie atemlos durch die Küchentür.
»Aber nicht allein«, entgegnete ihre Mutter. Entschlossen stellte sie ihren leeren Teller in die Spüle, griff sich ihren alten Mantel, der über der Stuhllehne hing, und steckte ihre Zigaretten und das Feuerzeug ein. Sie drückte Lorrell einen Abschiedskuss auf den Scheitel. »Sei artig zu Daddy, Lori. Und mach winke-winke, wenn du deine Schwester im Fernsehen siehst.«
Bevor sie in den Wagen stieg, blieb Dayna noch einmal stehen und blinzelte in das strahlende Sonnenlicht, das ihr wie der Wegweiser zu einem schöneren Ort erschien. »Danke, Mum. Danke, dass du mitkommst«, sagte sie.
»Das würde ich mir um nichts in der Welt entgehen lassen, mein Schatz«, erwiderte ihre Mutter.
Sie legten die Fahrt schweigend zurück. Während Mrs Ray den Zigarettenqualm aus dem Fenster blies, überlegte Dayna, ob ihrer Mutter wirklich daran gelegen war, dass die Wahrheit ans Licht kam, oder ob sie, wie die meisten Gäste der Show, nur auf fünf Minuten im Rampenlicht aus war und auf die seltsame Art von Ruhm, wenn sie alle Welt wissen ließ, wie schlecht es ihnen ging.
Carrie saß in der Garderobe, wo die Stylistin mit weit weniger Begeisterung als sonst die Kleiderauswahl musterte. Eine düstere Stimmung hatte sich über das ganze Studio gelegt. Carrie war das ganz recht – zwar sollten ihre Mitarbeiter sie nicht anders behandeln als sonst, aber den üblichen Lärm und Tumult hätte sie heute nicht ertragen können.
»Wie wär’s damit?«, fragte die Stylistin und hielt einen schiefergrauen Rock und ein dunkel gestreiftes Shirt hoch.
»Nein, eher nicht«, erwiderte Carrie, das Haar voller Lockenwickler. »Heute muss es etwas anderes sein.« Sie hatte es satt, dass andere die Kleidung für sie auswählten, ihr im Gesicht herumpinselten, das Haar kämmten, die Kleider abbürsteten und ein Getue um sie machten, als sei sie ein hilfloses Kind. Sie dachte an das Interview, in dem der Mann den Mord an seiner Familie gestanden hatte. Auf die Kleider kam es nicht an. »Ich ziehe einfach das an, was ich auf dem Weg ins Studio getragen habe.«
Mit
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