Der fremde Sohn (German Edition)
überzeugt. Ich habe ihr angeboten, ebenfalls anonym zu bleiben, aber das hat sie abgelehnt. Sie ist nicht wie andere Mädchen, Dennis. Ich habe zwar nur eine Stunde mit ihr verbracht, aber mir ist aufgefallen, dass sie, na ja, älter wirkt, als sie ist. Als ob sie durch alles, was sie durchgemacht hat, eben … anders geworden ist.«
»Anders, das kann man wohl sagen«, knurrte Dennis, rieb sich den Nacken und drehte den Kopf hin und her, bis es knackte. »Etwas an der Sache rumort in mir und lässt mir einfach keine Ruhe, Jess. Und wissen Sie was? Allmählich kommt es an die Oberfläche.«
»Das Einzige, was in Ihnen rumort, Dennis, ist Ihr Ehrgeiz, endlich jemanden zu verhaften. Dieser Druck ist es, der Ihnen keine Ruhe lässt, nicht irgendeine moralische Verpflichtung –«
»Sie können getrost davon ausgehen, dass es für mich so etwas wie eine moralische Pflicht gibt, Detective. Hier geht es nämlich zufällig um den Sohn einer lieben … einer guten Freundin von mir. Moral und Statistik und der Wunsch, meine Vorgesetzten und die Öffentlichkeit zufriedenzustellen – das alles ist nichts dagegen, dass ich Carrie leiden sehe, weil so ein kleiner Scheißkerl meinte, ihren Sohn auf dem Schulhof abstechen zu müssen.« Dennis löste seinen Sicherheitsgurt und stieß die Wagentür auf. Sein Gesicht war dunkelrot, und er schnappte nach Luft, als drohe er zu ersticken. Ob Jess gemerkt hatte, dass er das alles nur inszenierte, um seine Hilflosigkeit zu überspielen?
»Sie muss ja wirklich eine gute Freundin sein.« Jess schloss die Tür mit einem Bruchteil der Kraft, mit der Dennis seine zugeschlagen hatte. Da er nicht antwortete, gingen sie schweigend durch die Sicherheitsschleuse des Fernsehstudios hinein zu Carrie und ihrem Team.
Ja, dachte er, das ist sie.
Dayna hätte gern ihre Hand über das kühle Leder des Rücksitzes gleiten lassen und ihre Mutter berührt. Sie sehnte sich danach, sich an ihre Brust zu schmiegen, den Kopf an ihre Schulter zu lehnen, alles herauszulassen, was sie die ganze Zeit unterdrückte, und gesagt zu bekommen, alles werde gut. Ihr war ständig übel, und sie hatte Kopfschmerzen. Nachts lag sie lange wach, und wenn sie endlich einschlief, sah sie in ihren Träumen Max, wie er blutüberströmt auf die Knie fiel, zur Seite kippte und starb.
»Mum«, flüsterte sie.
»Was ist?« Ihre Mutter wandte sich vom offenen Fenster ab. Beim Sprechen quoll Rauch aus ihrem Mund.
»Ich hab Angst.«
Ihre Mutter starrte sie an, geradezu entsetzt darüber, dass ihre Tochter ein solches Gefühl überhaupt zulassen konnte. »Denk doch nur mal an das Geld, Mädchen. Es wird alles gutgehen, du wirst schon sehen.« Sie kniff Dayna aufmunternd ins Bein.
»Es gibt kein Geld dafür, Mum. Das weißt du doch. Ich tue es für Max.«
Ihre Mutter grunzte nur. Sie konnte nicht glauben, dass für sie gar nichts dabei herausspringen sollte.
Als der Verkehr endlich wieder floss, verfolgte Dayna durch das Fenster, wie ihr ärmliches Viertel von Straßen mit teuren Autos, exklusiven Geschäften und Luxushotels abgelöst wurde. Genau betrachtet war ihre Mutter gar nicht so viel anders als die Rüpel in der Schule. Auch die benahmen sich so daneben, weil sie sich einen finanziellen Vorteil davon versprachen oder sich großtun wollten und manchmal, weil ihnen nichts anderes übrigblieb. Fressen oder gefressen werden, so einfach war das. Niemals hatte ihre Mutter auch nur die geringste Spur von Ehrgeiz oder Stolz an den Tag gelegt. Wie den Kids in der Schule ging es auch ihr nur darum mitzunehmen, was sie kriegen konnte.
Das Sendezentrum war das größte Gebäude, das Dayna je gesehen hatte. Ebenso wie ihre Schule war es ein trister Backsteinbau aus den Siebzigerjahren, doch es wirkte moderner und gepflegter mit seinen verglasten Flügeln zu beiden Seiten des älteren halbrunden Mittelteils. Dayna beobachtete das geschäftige Kommen und Gehen auf dem hübsch angelegten Vorplatz, wo sie jetzt parkten. Die ganze Anlage war ein Umschlagplatz für Information und Unterhaltung. Sie wünschte sich heiß und innig, sie könnte an einer Welt wie dieser teilhaben.
Zögernd stieg sie aus. Der Fahrer hielt ihr die Tür auf und erklärte währenddessen ihrer Mutter den Weg. Da diese damit beschäftigt war, ihre Kippe auszutreten, hörte Dayna aufmerksam zu. Der Fahrer zwinkerte ihr zu, und diese kleine aufmunternde Geste machte ihr ein wenig Mut.
»Wiedersehen und danke«, rief sie ihm zu, dann ging sie mit ihrer Mutter
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