Der fremde Sohn (German Edition)
durch die Drehtür.
Vor ihnen lag ein langer Empfangstresen. Die Frau dahinter begrüßte sie lächelnd und reichte ihnen zwei Plastikkarten an einem Band, die sie sich um den Hals hängen sollten, sowie einen Plan des Gebäudes.
Als sie kurz darauf auf dem Weg zu Studio vier im Aufzug standen, teilte Dayna ihrer Mutter unumwunden mit, dass sie es doch nicht tun wolle. Es einfach nicht könne.
»Red keinen Blödsinn. Meine Tochter kommt ins Fernsehen.«
Aber Dayna hämmerte schon auf die Knöpfe ein, bearbeitete mit der Faust die Notruftaste und schlug mit dem Kopf gegen die Wand. »Nein!«, brüllte sie, doch als eine Stimme aus dem Lautsprecher fragte, was für ein Problem vorliege, sagte Dayna plötzlich ganz ruhig: »Es ist nichts. Alles in Ordnung«, und der Aufzug setzte sich wieder in Bewegung.
Carrie bekam mitgeteilt, Dayna sei endlich eingetroffen. »Aber sie ist noch nicht hier oben, oder? Hat jemand sie tatsächlich gesehen?«
Leah, die das Telefonat noch nicht beendet hatte, hob die Hand, um Carrie zu bremsen. »Ja, danke. Das ist prima.« Sie legte auf. »Sie sind gerade hochgekommen. Gehen wir.« Leah sah, wie sich Carries Augen veränderten – ihre vor Anspannung verengten Pupillen weiteten sich zu großen schwarzen Scheiben, die ihren inneren Aufruhr widerspiegelten. Ihr war klar, dass Carrie dieser Auftritt ebenso unangenehm war wie dem Mädchen, aber es bestanden gute Chancen, dass sie nach der Show von Anrufern wertvolle Hinweise bekamen. Erst recht angesichts des Materials, das sie den Zuschauern liefern würden.
»Hast du die Trailer ausgesucht?«, fragte Carrie.
»Ja. Acht werden heute Morgen im Frühstücksfernsehen und zwischen den Nachrichten gesendet.« Leah warf einen Blick auf die Uhr und fügte mit einem knappen Lächeln hinzu: »Ich hoffe, wir erreichen etwas, Carrie. Ich hoffe es wirklich.« Die beiden Frauen umarmten sich kurz, dann machten sie sich auf die Suche nach Dayna.
Carrie hatte keine Ahnung, wie sie die Show beginnen und wie beenden sollte oder was dazwischen geschehen würde. Sie und Dayna würden die Bühne für sich haben, abgesehen von einem viertelstündigen Infofilm über Messerstechereien in London, in dem zum Schluss über den Mord an der Milton Park School berichtet wurde. Es gelang ihrem Produktionsteam immer wieder, Carrie zu verblüffen, aber diesmal hatten sie sich selbst übertroffen, indem sie den kurzen Film in nur vierundzwanzig Stunden zusammenschnitten. Sie war nicht allein, sagte sie sich immer wieder, Leah und das Team standen ihr zur Seite. Sie zögerte einen Moment lang, dann betrat sie die Garderobe, wo Dayna auf sie wartete.
»Danke, dass du gekommen bist«, begrüßte Carrie Dayna. Die verängstigte Jugendliche saß mit dem Rücken zu ihr und blickte ihr aus dem Spiegel entgegen, das Haar mit einem elastischen Band zurückgebunden. Sie versuchte Dayna zuzulächeln, doch es misslang ihr kläglich. Das Mädchen zuckte die Achseln.
»Ich hab gesagt, dass ich kein Make-up will. Ich hab doch schon Wimperntusche drauf.«
»Es ist aber nötig, wegen des Lichts«, erklärte Carrie. »Es ist so grell, dass du aussiehst wie eine Leiche, wenn –« Carrie wünschte sofort, sie hätte dieses Wort nicht ausgesprochen. »Nur ein bisschen Grundierung, damit du, äh, etwas Farbe bekommst.«
Dayna knibbelte nervös an ihren Fingernägeln und nickte widerwillig. »Muss ich das hier wirklich machen?«
»Na klar«, ertönte eine raue Stimme von der anderen Seite der Garderobe. Es war Daynas Mutter. Carrie erkannte sie wieder.
»Mrs Ray, schön, dass Sie mitgekommen sind«, sagte Carrie.
Die Frau erhob sich und kam mit männlichem Gehabe auf Carrie zu. »Wir machen das hier aber nich’ für lau«, verkündete sie. »Wir brauchen das Geld, das hab ich ihr auch gesagt.«
»Ich fürchte, dafür gibt es kein Geld, Mrs Ray. Wir bezahlen unseren Gästen nichts.« Sie bedeutete der Maskenbildnerin, weiterzumachen.
Daynas Mutter zögerte. Sie roch nach Zigarettenqualm. »Dann gehen wir. Los, Dayna, komm.« Sie zog ihre Tochter am Ärmel, aber Dayna riss sich los.
»Mu-um. Ich mache es trotzdem, klar?«
»Immer dieses Hin und Her. Nun entscheid dich doch mal, Mädchen.« Je mehr die Mutter dagegen war, dass ihre Tochter ohne Bezahlung in der Show auftrat, desto entschlossener wirkte diese, es doch zu tun.
»Mrs Ray«, mischte sich Leah ein, »kommen Sie doch mal mit mir, dann können wir uns über eine Aufwandsentschädigung unterhalten.«
Mit einem
Weitere Kostenlose Bücher