Der fremde Sohn (German Edition)
Rücksicht auf Carries Gemütszustand hütete sich die Stylistin, ihr zu widersprechen. Carries Kleidung, ganz gleich wie sie aussah, würde den Einschaltquoten keinen Abbruch tun. Die Zuschauer freuten sich auf spannungsgeladene Diskussionen, auf Konflikte und ihre Lösung, und heute würden ihre Sympathien ganz auf der Seite der Moderatorin sein.
»Also dann Jeans und Sweatshirt«, sagte die Stylistin und klatschte in die Hände, als wolle sie sich in einen Kampf stürzen. Als die Frau die Garderobe verließ, schien es Carrie, als wechselte sie einen bedeutungsvollen Blick mit der Maskenbildnerin, die gerade hereinkam.
»Ich möchte keine Umstände machen«, rief Carrie ihr noch nach, doch die Stylistin hörte es nicht mehr. »Ich will nur, dass sie sich wohl fühlt und unbefangen mit mir redet, als ob … vielleicht als wäre ich ihre Mutter«, beendete sie den Satz mit leiser Stimme, aber die Maskenbildnerin hörte wohl ohnehin nicht zu. »Nur einen Hauch von Make-up, nicht zu auffällig.« Das Mädchen nickte Kaugummi kauend und packte seine Pinsel aus.
»Ist sie schon da?« Es war zwanzig vor neun, und Carrie schritt unruhig in Leahs Büro auf und ab. Sie zitterte, und ihr war abwechselnd heiß und kalt. Ihre Knochen schmerzten. Sie fühlten sich brüchig an, als könnten sie das Gewicht ihres Körpers kaum tragen, als habe der Kummer der vergangenen Woche sie von innen ausgehöhlt. »Hat irgendwer das verflixte Mädchen gesehen?«
»Beruhige dich, Carrie. Sie wird schon rechtzeitig da sein.«
»Aber ist sie schon im Gebäude?«
»Sally hat den Fahrer angerufen – sie stecken im Stau, werden aber bald hier sein.«
Als sie das hörte, wurden Carries Schritte noch energischer. »Und wenn sie es nicht schaffen? Dann könnte ich sie doch auch am Telefon interviewen, nicht? Oder wir könnten mit den Kameras rausfahren. Das Mädchen muss unter allen Umständen in der Sendung erscheinen.«
»Mach dir keine zu großen Hoffnungen, Carrie.« Leah, die hinter dem Schreibtisch saß, erhob sich. »Sie kann immer noch abspringen. Und auch wenn sie auftritt, kommen vielleicht trotzdem keine neuen Hinweise rein.«
»Besitzt sie ein Handy? Warum hat sie keine Polizeieskorte bekommen? Können wir nicht noch eine arrangieren?«
»Beruhige dich doch. Bitte.« Leah fasste Carrie am Arm. »Du regst dich nur auf, dabei musst du für die Show einen kühlen Kopf bewahren.« Leah strich ihrer Freundin eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Zieh dich doch erst mal um und lass dich frisieren.«
»Ich bin schon fertig«, entgegnete Carrie. »Wenn ich mein übliches Outfit trage, wird sie eingeschüchtert und redet nicht. Ich muss ihr auf Augenhöhe begegnen.« Carrie hockte sich auf die Kante eines Stuhls. »Aber was, wenn sie nun nicht mit mir sprechen will? Oder wenn niemand anruft?«
»Carrie, Carrie.« Leah reichte ihr ein Glas Wasser. »Bist du sicher, dass du das hier durchziehen willst? Noch kannst du es dir anders überlegen.«
»Ich mache auf keinen Fall einen Rückzieher. Allein schon weil ich keinen anderen Weg sehe. Wenn ich nicht alles tue, damit Max Gerechtigkeit widerfährt, dann …« Carrie verstummte. Es war unvorstellbar, wie leer ihr Leben dann wäre. Sie hasste sich selbst dafür, dass sie den Sinn ihres Daseins erst jetzt erkannte, als es zu spät war. »Dann kann ich mich nicht mehr im Spiegel anschauen«, fuhr sie fort, auch wenn sie fand, dass das nicht annähernd beschrieb, wie ihr zumute war.
Dennis bestand darauf, dass Jess bis zum Beginn der Show bei dem Mädchen blieb. Immerhin war sie es gewesen, die Dayna überredet hatte, bei dem Zeugenaufruf mitzumachen. Außerdem verließ er sich auf Jess’ Überredungskünste für den Fall, dass das Mädchen es sich im letzten Augenblick anders überlegte.
»Sie wird zu ihrem Wort stehen«, sagte Jess.
»Sind Sie sicher? Bisher war sie keine besonders zuverlässige Zeugin.«
»Ich habe ihr von dem Plummer-Jungen erzählt und davon, wie aufgelöst die Mutter war, nachdem er ermordet worden war.«
»Und? Hat es sie interessiert?« Dennis parkte den Wagen auf dem gewohnten Platz vor dem Studio. Es gefiel ihm, dass wenigstens etwas so war wie immer.
»Sie hat lange darüber nachgedacht und verstanden, dass die Mörder nur mit Hilfe der Öffentlichkeit ermittelt werden konnten. Als ich ihr dann noch erzählte, dass ein Mitglied der betreffenden Bande in Carries Show auftreten wollte – wenn auch inkognito und mit verfremdeter Stimme –, war sie
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