Der fremde Sohn (German Edition)
natürlich geklopft, aber Max war nicht da. Mit einem Blick auf ihr Handy vergewisserte sie sich, dass es wirklich halb zwei war, wie verabredet. Nach der Englischstunde war sie hinausgerannt, weil sie wusste, dass er hier schon auf sie wartete. Sie tippte eine kurze Nachricht ein: Wo bist du? und fügte noch ein X hinzu, das sie aber wieder löschte, bevor sie auf Senden drückte.
Sie setzte sich auf den struppigen Flecken Gras neben dem Schuppen und wartete. Ein Käfer krabbelte über ihren Knöchel. In der Herbstsonne, die durch eine Baumkrone fiel, war dies ein nettes Plätzchen in der ansonsten öden Umgebung. Überall nur Abfall, Gerümpel und graue Trostlosigkeit. Der bläuliche Brückenbogen – scheinbar viel zu zerbrechlich für die Züge, die über ihren Kopf hinwegdonnerten – kam ihr beinahe schön vor, wenn sie an die Menschen dachte, die vor über hundert Jahren mit ihren Händen Stein für Stein diese Brücke gebaut hatten.
Jetzt waren sie alle tot, dachte Dayna und kam sich vor wie eines der Eisenbahnkinder aus dem Buch von Edith Nesbit. Sie kauerte sich zusammen, als das ferne Rumpeln zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen anschwoll und ein vorbeiratternder Zug die Erde erbeben ließ. Jede Zelle ihres Körpers vibrierte. Sie stieß ein lautes Johlen aus und brüllte: »Haaallooo!« Bei diesem Getöse hörte sie ohnehin niemand. Wenn ein Zug kam, konnte sie ihrem Herzen Luft machen und ihre größten Geheimnisse hinausschreien. Solange sie es nur selbst nicht anhören musste.
Von Max war keine Antwort gekommen. Sie stand auf und trat gegen die Seitenwand des Schuppens. Warum hatte sich Max überhaupt hier mit ihr treffen wollen? Sie hätten sich doch ebenso gut in der Mensa verabreden können.
Morgen 1.30 in meiner Bude. Komm .
Sie hatte die SMS gestern Abend empfangen, als sie schon im Bett lag. Es erschien ihr nicht richtig, seine Worte zu lesen, während sie in ihrem Nachthemd unter der Decke lag und versuchte, trotz des lauten Streits zwischen ihrer Mutter und Kev unten einzuschlafen, doch sie konnte nicht widerstehen.
Sie beschloss nun, noch eine SMS an ihn zu schicken und zu fragen, wo zum Teufel er steckte. Sekunden später piepte drinnen ein Handy – das Signal für eine eingegangene Nachricht. Während sie zur Tür ging, ertönte das Signal ein zweites Mal.
»Max, du Blödmann, mach auf!«
Es dauerte einen Augenblick, dann hörte sie, wie der Riegel zurückgeschoben wurde, und in der Tür stand Max. Im Dämmerlicht des Schuppens wirkte er hager.
»Hast du geweint?«
Max zuckte mit den Schultern. Dayna drängte sich an ihm vorbei. Sie bemerkte den angerauchten Joint, der auf dem Rand des Autositzes lag.
»Darf ich?« Sie nahm ihn und tat einen Zug. Binnen Sekunden hatte sie das Gefühl, als würde sich ihr Geist vom Körper lösen. Das gefiel ihr. Sie mochte es nur nicht, sich so zuzudröhnen, dass sie die Kontrolle verlor. »Du wirst noch die ganze verdammte Bude abfackeln, wenn du den da liegen lässt.« Sie ließ sich auf den angesengten Plastiksitz fallen. Wie immer beim ersten Zug an einem Joint setzte ihr Herz ein paar Schläge aus.
»Warum hast du geweint?« Dayna zog ein Buch aus der Tasche und hielt es Max hin. » Der große Gatsby. Ich mag es, wenn sie neu sind. Ganz frisch und unberührt. Und der Geruch.« Sie schlug das Buch auf und schnupperte. »Hmmm.« Dann zog sie noch einmal an dem Joint und gab ihn Max zurück. Er nahm ihn, das Buch jedoch nicht. »Es gehört dir. Ich hab gesagt, dass ich es dir gebe. Er hat sie im Unterricht verteilt. Wo warst du?« Behutsam legte Dayna das Buch auf einen verpackten Elektrogrill. »Klein, aber fein«, sagte sie mit einem Augenzwinkern.
»Du kannst ihn haben, wenn du willst.« Max rauchte. »Nimm den ganzen Kram.« Er ging neben ihr in die Hocke. »Würde er deiner Mutter gefallen?«
»Nein.« Mit einem komischen kleinen Lachen umschlang Dayna ihre Knie. »Bei uns gibt’s nur Dosenfutter. Dosentomaten auf Toast. Dosenpfirsiche. Wirklich, bei uns kommt sogar der Kuchen aus der Dose. Obst und so ein Sahnezeug, das schmeckt wie Sperma.«
Im halben Schneidersitz, ein Bein untergeschlagen, ließ sich Max auf dem Boden nieder und legte seinen Unterarm auf das aufgestellte Knie, den Joint locker zwischen Daumen und Zeigefinger. »Woher willst du das wissen?« Seine Augen, die vielleicht gar nicht vom Weinen, sondern vom Kiffen gerötet waren, verengten sich langsam zu einem leisen Lächeln. Es wirkte ein bisschen verlegen. Oder
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