Der fremde Sohn (German Edition)
ihrer Füße, als sie davonlief, ihren keuchenden Atem, der fremd klang, ihr eigenes Schluchzen, als ihr klarwurde, was sie getan hatte.
Carrie entließ sich selbst aus dem Krankenhaus. Es war von einer Gehirnerschütterung die Rede gewesen, von Sedieren und Überwachen, bis sich der erste Schock gelegt hatte … Aber was sollte das alles, nachdem sie die Leiche ihres eigenen Sohnes auf einem Tisch in der Leichenhalle gesehen hatte? In dem Moment schien es ihr, als müsse sie nur ganz leicht seine Schulter berühren, damit er sich auf die Seite drehte, träge die Augen aufschlug und mit verschlafener Stimme fragte, ob er wirklich schon aufstehen müsse.
Da ihr niemand Auskunft darüber geben wollte, wo ihre Kleider geblieben waren, verließ sie die Station eben barfuß in ihrem Krankenhausnachthemd. Völlig verwirrt hielt sie ein Taxi an und ließ sich nach Hause bringen, obwohl sie kein Geld bei sich hatte. Der Fahrer hupte ungeduldig, während sie den Sicherheitscode der Schließanlage eintippte. Sie war nicht einmal sicher, ob sie tatsächlich hier wohnte.
Endlich beugte sich Carrie durch das Wagenfenster und ließ einen Fünfzig-Pfund-Schein auf den Beifahrersitz fallen. Dann ging sie zurück ins Haus, zog die Tür hinter sich zu und ließ sich an der Wand hinabgleiten. Ihr bloßer Rücken schrammte über den kalten Putz.
Von irgendwoher kam ein Geräusch. Alle paar Sekunden drang ein elektronisches Piepsen zu ihr durch, während sie versuchte, sich gegen die Wirklichkeit abzuschotten, ihren Körper in ein weiches Geflecht einzuspinnen, das jedes Gefühl betäubte. Bald würde sie völlig empfindungslos sein.
Wo war Brody? Er war mit einer Frau im Krankenhaus gewesen, so viel wusste sie noch. Sie erinnerte sich vage daran, dass seine tiefe Stimme, die ihr einmal so lieb und vertraut gewesen war, durch den Krankenhausflur dröhnte, während man sie auf einem Bett davonschob. Er werde sie schon finden, hatte er versprochen, und dass sie das gemeinsam durchstehen würden. Doch er kam nicht, und so war sie gegangen.
Carrie kroch auf allen vieren durch die Eingangshalle und über den Flur mit dem schimmernden Holzfußboden. Sie registrierte die winzigen Abdrücke zahlloser hoher Absätze. Sie stammten zweifellos von ihr. Hier war sie durch ihr makelloses Leben geschritten. Die Dellen waren nur von Nahem zu sehen.
Auf ihrem Weg in die Küche kam es ihr vor, als sei die Luft zäh wie Sirup. Was für Mittel hatten sie ihr im Krankenhaus verabreicht? Sie brauchte all ihre Kraft, um sich an einem Hocker hochzuziehen und sich auf der glänzenden Arbeitsplatte abzustützen.
Wenn mich jemand so sehen könnte. Sie fühlte sich, als hätte sie die Grippe. Ihre Muskeln schmerzten, und die Augen brannten. Die große Carrie Kent.
Das Geräusch kam vom Anrufbeantworter. Sie nahm das Telefon aus der Wandhalterung und drückte mechanisch die Tasten. Zitternd versuchte sie, sich mit dem elenden Krankenhausnachthemd zu bedecken, doch es war einfach zu knapp. Das Telefon in der Hand, schleppte sie sich zur Treppe, wobei sie sich auf Möbelstücken und an der Wand abstützte. Sie drückte auf Wiedergabe.
»Wo steckst du, Carrie? Ich erreiche dich nicht auf dem Handy. Ruf mich zurück.«
»Hallo? Carrie? Bist du da? Geh doch ran.«
Es folgten fünf weitere verzweifelte Nachrichten von Leah, unterbrochen von den Pieptönen des Anrufbeantworters.
»Carrie, ich bin’s. Ich war im Krankenhaus, aber dort haben sie mir gesagt, dass du weg bist. Melde dich doch bitte, Carrie.«
Und so ging es weiter. Dann kam eine Nachricht von ihrer Tante, die offenbar noch nichts von dem Vorfall wusste, und danach ein Anruf von Dennis Masters. Er wollte mit ihr über einen neuen Fall für die Show sprechen.
Sie hörte ihre Stimmen und war dennoch ganz allein.
In ihrem Schlafzimmer war es dunkel. Sie erinnerte sich daran, dass sie am Morgen in aller Eile aus dem Haus gegangen war. Martha hatte ihren freien Tag, sonst wäre sie wie immer durchs Haus geeilt, hätte aufgeräumt, die Jalousien hochgezogen, Sachen aufgesammelt. Max’ Sachen.
Carrie stürzte ins Bad und übergab sich. Nachdem sie sich das Gesicht gewaschen hatte, legte sie sich aufs Bett und überlegte, ob sie all die Pillen schlucken sollte, die in ihrem Nachtschränkchen lagen. Das würde ihnen gefallen, den Zeitungen und Klatschmagazinen. Sie hassten sie, das wusste Carrie, obwohl sie dazu beitrug, ihre Auflagen zu steigern. Die meisten Leute hassten sie, schauten aber dennoch
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