Der fremde Sohn (German Edition)
»Natürlich nicht. Es ist ja keine Person.«
»Aber du sprichst mit ihm, als wäre es eine.«
Max zuckte die Achseln und stieß mit dem Fuß gegen den Schreibtisch der Frau. War sie eine Ärztin? Er wusste es nicht. Er schaute zu seiner Mutter hinüber, die stumm neben ihm saß und ständig die Finger verschränkte und wieder löste. Er wünschte, sie möge weggehen. Er sprach nicht gern in ihrer Gegenwart über das Ding . Außerdem hatte er noch etwas zu tun, das er lieber ohne sie erledigte. Ehe er in die Schule zurückkehrte, musste er sich die Haare schneiden lassen. Er sah bereits vor sich, wie seine Mutter auf die Uhr schaute, die Augen verdrehte und ihren Fahrer anwies, ihn zu einem dieser Schickimickisalons voller Frauen zu bringen, während sie in aller Eile zurück ins Studio fuhr.
»Du hast wohl sonst niemanden zum Reden?« Er spürte, wie das Klima in dem tristen Raum durch die finstere Miene seiner Mutter noch schlechter wurde. Das hatte er schon oft erlebt. Sie ließ alle um sich herum nach ihrer Pfeife tanzen und wurde auf diese Weise auch noch berühmt. Wenn Max dasselbe tat, nannten sie ihn ein launisches, verzogenes Gör.
»Warum ist das so, Max? Gehst du nicht gern zur Schule?«
»Doch, ist schon in Ordnung.« Max vergrub eine Hand in der Tasche und stieß dabei auf eine angebrochene Rolle Polo. Etwa drei Stück waren noch drin, ganz warm von seinem Bein. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Das Ding befahl ihm, ein Pfefferminzbonbon zu nehmen, und er gehorchte. Seine Mutter seufzte. Die andere Frau schüttelte lächelnd den Kopf, als er ihr eins anbot. Dann schrieb sie etwas auf den Block, den sie auf den Knien hielt. Sie hatte hübsche Knie, dachte Max. Wie Miss Riley aus der Schule. Zu der waren die anderen auch gemein.
»Was ich damit sagen wollte, ist, ob es nicht besser wäre, mit Jungs in deinem Alter zu reden, als mit diesem Ding, mit dir selbst, zu reden.«
Es folgte eine tiefe Stille. Max wäre am liebsten hinausgerannt. Sie glaubte wirklich, er führte Selbstgespräche. Was sollte er dazu sagen? Er wusste es nicht. Manchmal, ganz überraschend, brachte ihn das Ding dazu, Sachen zu sagen, die ihm eine Tracht Prügel seitens seiner Mitschüler einbrachten. Oder, noch häufiger, veranlasste es ihn, Unwohlsein vorzuschützen, damit er sich frühzeitig in den Schlafsaal zurückziehen und einfach nur schlafen konnte. Auf diese Weise vermochte er die ganze schwere Last zumindest eine Zeitlang abzuschütteln.
Die Stille hielt an. Nach einer Weile legte die Psychologin ihren Block beiseite und wandte sich an Max’ Mutter.
»Ich glaube, Mrs Kent, Ihr Sohn ist depressiv«, sagte sie mit gedämpfter Stimme.
Das war also ihre Diagnose. Depression.
Max mit seinen zwölf Jahren wusste genau, was das war.
»Aha. Tja, also vielen Dank, Frau Doktor«, erwiderte Max’ Mutter. Jetzt konnten sie mit ihrem Leben weitermachen.
Langsam wandte Max den Kopf und sah seine Mutter an. Sie wirkte erleichtert. Ihre Augen waren ein wenig schmal geworden, als läge ein Lächeln darin. Doch es war kein frohes Lächeln, sondern eines, das ausdrückte: »Auch das noch.« Gleichzeitig dankte sie wahrscheinlich Gott dafür, dass es nichts Ernstes war. Dass sie ihn einfach zur Schule zurückschicken konnte und sich die ganze leidige Angelegenheit mit einer Packung Pillen und ein paar Therapiestunden aus der Welt schaffen ließ. Das jedenfalls flüsterte ihm das Ding zu.
Max nahm das letzte Polo aus der Tasche und kaute gemächlich darauf herum, ohne den Blick von seiner Mutter zu wenden.
Herbst 2008
M ax schleppte mühelos den großen Karton. Er war so glücklich, dass er über das ganze Gesicht strahlte und das Gewicht gar nicht spürte.
O Mann, ich hab gewonnen! Wusste ich es doch!
Die Kante des Kartons schnitt in seine dünnen Arme, doch das war ihm egal. Das Teil hier war wirklich der Hammer, das Beste bisher. Dabei war es ganz einfach gewesen. »Man muss nur wollen«, murmelte er und dachte daran, was Dayna für ein Gesicht machen würde, wenn sie die Packung öffnete. Vielleicht sollte er ihr helfen, das Paket nach Hause zu tragen, nachdem er sie in seiner Bude damit überrascht hatte. Dann konnte er ihre Familie kennenlernen, möglicherweise sogar zum Tee bleiben. Er wollte, dass alles seine Richtigkeit hatte, dass ihre Eltern einverstanden waren. Vielleicht konnten sie dann auch den Computer ausprobieren …
Er blieb stehen.
Ein Stück vor ihm lungerten vier Jungs herum und blockierten die
Weitere Kostenlose Bücher