Der fremde Sohn (German Edition)
konnte sie sich selbst allerdings nicht erklären. Auf jeden Fall hatte die Flasche Wein dazu beigetragen, die sie gemeinsam geleert hatten.
»Noch mal?«, fragte Brody. Aber es war eigentlich gar keine Frage. Zum dritten Mal schob er sich über sie, seine glänzende schwarze Haut in starkem Kontrast zu ihrem milchweißen Körper, und wälzte sich zwanzig Minuten später wieder zur Seite. »Nicht schlecht«, sagte er mit geschlossenen Augen, das Betttuch um die Taille gewickelt.
Da holte Carrie aus und versetzte ihm eine kräftige Ohrfeige. Das tat gut. Dann griff sie nach ihrer Handtasche und holte das Tonbandgerät hervor. Während der folgenden vier Stunden quetschte sie Brody über seinen Werdegang, seine Liebesaffären, seine Erfolge und Ambitionen aus. Dabei erwies er sich als überaus zugänglich, was Carrie nicht weiter überraschte. Sie merkte nicht einmal, als die Kassette voll war und sich der Rekorder ausschaltete, so gebannt folgte sie Brodys Erzählung. Schließlich schlief sie erschöpft ein.
Als sie wieder erwachte, fragte sie sich – wider jede Vernunft, die normalerweise ihr Leben bestimmte –, ob das wohl so etwas wie Liebe war.
Vergangenheit
W ährend seiner gesamten Kindheit hatte Max unter einer Art Belastung gelebt, die er weder näher bestimmen noch benennen konnte. Er litt darunter, doch so etwas ließ sich nicht ändern. Er musste die ständigen Hänseleien eben über sich ergehen lassen.
Ein Mädchen in seinem Kindergarten hatte an der rechten Hand einen sechsten Finger, einen schlaffen kleinen Stummel ohne Fingernagel. Ihre Eltern wollten ihn entfernen lassen, als sie noch kleiner war, aber sie wehrte sich dagegen. Die anderen Kinder verspotteten sie dafür, aber Max mochte sie nur umso lieber. Auch er hatte von Geburt an etwas Besonderes an sich, er wusste nur nicht genau, was es war. Es nagte an ihm, nie wurde er es los. Wie ein ganz persönlicher Gott – oder ein Dämon, dachte er, als er älter wurde.
Als er noch kleiner war, dachte Max, dieses Ding beschütze ihn irgendwie. Ihm war klar, dass er sich von den anderen Kindern unterschied, schon allein durch die Tatsache, dass er als einer der wenigen an seiner Schule halb schwarz, halb weiß war. Er wusste auch, dass seine Eltern viel Geld bezahlten, um ihn aufs Denningham College zu schicken, und er fragte sich manchmal, ob die Schule der Grund für seine innere Angst war. Er fühlte sich dort nie wohl.
»Hänseln, Mobbing, Rassismus, Gewalt werden in Denningham schlicht nicht geduldet. Jeder Schüler, der bei einem derart abscheulichen Verhalten ertappt wird, wird unverzüglich der Schule verwiesen. Wir sind hier stolz auf gutes Benehmen und allseitige Toleranz.«
Das verkündete die Schulleiterin zu Beginn jedes Schulhalbjahres, doch niemand scherte sich darum. Seine Mitschüler steckten Max trotzdem mit dem Kopf in die Kloschüssel, klauten ihm seine Sachen, um sie kaputtzumachen oder zu verhökern, und brachten seine ganze Klasse dazu, ein Semester lang kein Wort mit ihm zu reden. Im Schlafsaal schlief er immer schlecht und stand früh auf, um zu duschen, bevor die anderen kamen, aus Angst, sie würden sich über seinen mageren Körper lustig machen. Er hätte es nicht ertragen, noch einmal diese widerlichen Dinge vor ihren Augen tun zu müssen.
Am Denningham College werden keine Unterschiede gemacht. Ihr seid alle gleich .
Die Schuljahre vergingen, Max wurde älter und verständiger, und seine Bindung zu dem Ding wurde immer enger. Es hockte auf seiner Schulter und beobachtete ihn, wenn er nachts weinte, tadelte ihn, wenn er sich dumm benahm, trieb ihn an, wenn er sich nicht traute, und hielt ihn zurück, wenn er vorpreschen wollte. In alle Belange seines Lebens mischte es sich ein, bis Max in die Pubertät kam und die Rektorin seiner Mutter schrieb, dass er mit jemandem redete, den es gar nicht gab.
Carrie Kent ließ sich daraufhin durch ihre Sekretärin einen Termin bei einer der angesehensten Psychologinnen der Harley Street geben.
»Und dieses Ding war schon immer bei dir, Max?«
Es gefiel Max, dass diese Frau, genau wie er selbst, es Ding nannte, als gebe es dieses namenlose Etwas wirklich. Ein Ding, das man nicht verärgern und von dem man nur positiv reden durfte. Denn das Ding war mächtig – schließlich beherrschte es sein Leben.
»Klar.« Max war zwölf. Er war intelligent, hatte jedoch nie gute Noten. »Schon immer.«
»Und hat dieses Ding einen Namen?«
Was für eine alberne Frage.
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