Der fremde Sohn (German Edition)
gesagt, als wolle sie dem tieferen Sinn jedes einzelnen Wortes nachspüren, das jetzt in der Kapelle gesprochen wurde. Aber was bedeutete das alles wirklich? Sie blickte zu Brody auf. Seine Augen funkelten, und hin und wieder nickte er leicht mit dem Kopf. Carrie bemerkte, dass sein Kragen zu eng war.
In guten wie in schlechten Tagen, in Reichtum und Armut, in Krankheit und Gesundheit …
Der Mann, der in wenigen Minuten ihr Ehemann sein würde, lauschte aufmerksam den Worten des Kaplans. Der hatte sie schon oft gesprochen, sie beide jedoch würden sie nur einmal hören. Es war ein Vertrag, das war ihr klar. Ein Versprechen, alles, was das Schicksal ihnen bescheren mochte, gemeinsam durchzustehen. Dieses Abkommen schloss auch die erregende Aussicht ein, sich für alle Zeiten am Körper des anderen zu erfreuen. Es war das Jahr 1993, und »für alle Zeiten« war praktisch eine Ewigkeit.
In ihrer Vorfreude wünschte sie sich, der Empfang wäre schon vorüber und sie könnten sich für die Flitterwochen in das Cottage zurückziehen.
Bis dass der Tod euch scheidet …
Eine unerklärliche Furcht durchfuhr Carrie. Auf einmal wurde ihr in ihrem leichten weißen Kleid eiskalt.
»Caroline?« Die Stimme des Kaplans war ruhig und voller Wärme.
Carrie löste sich aus ihrer Erstarrung und lächelte. »Ja, ich will«, sagte sie auf ihr Stichwort hin mit ernster Stimme. Sie blickte in Brodys dunkle Augen. Wie sie es liebte, neben ihm aufzuwachen und zu sehen, wie seine Lider in süßen Träumen zuckten. Brody war schweigsam und intelligent, außerdem ehrgeizig, doch es ging ihm nicht darum, auf der Karriereleiter aufzusteigen, ihn trieb ein tiefes Interesse an seinem Fachgebiet an. Das war es auch, was Carrie so sehr an ihm liebte – seinen hochbegabten, kreativen Geist, der ihr immer neue Überraschungen bescherte.
»Brody Nathan Quinell, willst du diese …«
Beide hatten nicht viele Verwandte, die zur Hochzeit erschienen, auch wenn Brody zu Hause in Jamaika eine Unmenge Cousins und Cousinen, Onkel und Tanten hatte.
Seine Eltern waren nach England gekommen, als er noch ein Baby war, und hatten sich als Markthändler hochgearbeitet. Sie besaßen ein Haus in einer gutbürgerlichen Gegend, hatten viele Freunde und schafften es, sich durch lebenslange harte Arbeit einen florierenden Obst- und Gemüsehandel aufzubauen. Es betrübte Brody sehr, dass sie seine Hochzeit mit Carrie nicht mehr mitfeiern konnten. Eine Ehe wie die seiner Eltern, das wünschte er sich auch, einen wahren Bund fürs Leben. Beide waren innerhalb einer Woche verstorben. Sein Vater war eines Morgens an seinem Stand zusammengebrochen und einem schweren Herzinfarkt erlegen, und auch seine Mutter hatte, wie ihre Freunde später sagten, am Herzen gelitten – an gebrochenem Herzen.
Brody zog Carrie enger an sich. Sie beide waren heute die Stars des Abends, wie sie im Scheinwerferlicht über die glitzernde Tanzfläche wirbelten. Er liebte ihre schmale Taille, ihre kräftigen Beine erregten ihn schier unerträglich, und als sie die Arme um seinen Hals schlang und mit den lackierten Fingernägeln spielerisch über seinen engen Kragen strich, hätte er sich am liebsten auf der Stelle die Kleider vom Leib gerissen.
»Ich liebe dich«, flüsterte er ihr mit rauer Stimme ins Ohr. Als Antwort knabberte Carrie an seinen Lippen. Ihre Freunde, die dichtgedrängt die Tanzfläche umringten, klatschten lachend Beifall. Es war ihr Tag, voller Hoffnung auf eine glückliche Zukunft.
Es gab ein großes Büfett, und während des Essens trieb Brody ein wenig widerwillig Konversation mit Leuten, die er nicht kannte, zumeist Carries Arbeitskollegen. Er häufte Wolfsbarsch mit Mangosoße auf seinen Teller, mit gedünsteten Feigen gekrönte Fetatörtchen, Backhühnchen mit Zitronen und Reis. Er aß und lächelte und ließ hier und da eine Bemerkung fallen. Dabei beobachtete er, wie seine frischgebackene Frau durch den Saal schritt. Auf ihre Anweisung hin war er mit weißen Lilien geschmückt worden, weil der Name seiner Mutter Lily-Mae gewesen war.
»An dem Haus muss noch einiges getan werden«, erklärte Brody, als sich zum wenigstens zehnten Mal jemand nach ihrer neuen Errungenschaft erkundigte. »Aber es wird schon werden.« Was er damit eigentlich sagen wollte, war, dass es ihn nicht kümmerte, ob das Haus bis in alle Ewigkeit eine heruntergekommene Bruchbude blieb, solange er dort nur mit Carrie leben konnte.
Er kämpfte sich zu ihr durch. »Du bist so
Weitere Kostenlose Bücher