Der fremde Sohn (German Edition)
lechzten.
Normalerweise stolperte Brody nie, doch jetzt, auf der Treppe zum Polizeirevier, trat er daneben. Fiona konnte ihn nicht mehr auffangen, und so stürzte er, die Hände blindlings ausgestreckt, und schlug mit dem Kopf auf die Kante der Betonstufe. Fiona schrie auf. Mit einem Satz war sie neben ihm und drehte seinen Kopf zur Seite, um zu sehen, ob er sich verletzt hatte.
»Ach herrje, du blutest ja.« Sie holte ein Päckchen Papiertaschentücher aus der Tasche. »Nicht bewegen. Ach, Brody, es tut mir so leid. Ich dachte nicht –«
»Es ist ja nicht deine Schuld, dass ich nicht sehen kann.«
Fiona runzelte die Stirn. »Aber es ist mein Job, darauf zu achten, dass du nicht in Schwierigkeiten gerätst.«
»Nein. Dein Job ist es, mich da wieder rauszuholen.«
Fiona schwieg. Die Wunde war voller grober Sandkörner. Während sie das Blut abtupfte, dachte sie über seine Worte nach. »Es tut mir leid«, sagte sie noch einmal.
»Ich habe eben nicht … auf den Weg geachtet.« Brodys Stimme war ernst, seine Worte kamen langsam und überlegt. Fiona tupfte weiter an seiner blutenden Schläfe herum. Beiden war bewusst, dass er nicht nur den Sturz meinte.
»Die Wunde muss gereinigt und desinfiziert werden«, erklärte Fiona und zupfte Brody am Ärmel, um ihn zum Aufstehen zu bewegen. Er kam mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Beine.
»Ich werde alt«, bemerkte er und streckte ächzend den Rücken.
Fiona fand nicht, dass er mit seinen sechsundvierzig Jahren alt aussah. Sie wünschte, sie hätte ihm einen Spiegel vorhalten können, damit er sein Gesicht sah, diese Augen, die stets unbeirrbar geradeaus blickten. Manchmal, wenn er arbeitete, schaute sie auf seinen Mund und beobachtete, wie er die Lippen verzog und vor Konzentration zusammenpresste, und sie erschrak, als sie sich bei dem Gedanken ertappte, wer diesen Mund wohl zuletzt geküsst hatte.
»Warte«, sagte sie und faltete ein sauberes Taschentuch zusammen. »Drück das hier auf die Wunde.« Wie gern hätte sie ihm alle Schmerzen genommen, doch sie wusste, dass das unmöglich war.
Sie betraten das Gebäude und wurden in ein Vernehmungszimmer geführt. Jemand brachte Kaffee und stellte ihn auf den großen runden Tisch, wo auch ein Teller mit Plätzchen stand. Als ob sie jetzt etwas essen könnten, dachte Fiona.
»Hier drin ist es trist.« Brody wollte sich nicht setzen, sondern zog es vor, in dem quadratischen Raum auf und ab zu gehen, während sie auf DCI Masters warteten.
In deiner Wohnung etwa nicht?, dachte Fiona im Stillen. Sie wusste, dass der Hall seiner Schritte und der Geruch nach Desinfektionsmittel, das die Putzkolonne am Vorabend reichlich verwendet hatte, ihm einiges über den Raum verrieten. »Ja, es ist deprimierend.« Sie trat zu ihm. Das Papiertaschentuch war blutdurchtränkt, doch er hatte es abgelehnt, sich verarzten zu lassen. »Willst du dich nicht setzen? Es gibt Kaffee.«
»Nein.« Brody zog es an das vergitterte Fenster. »Hier hinein bringen sie die Verbrecher, um sie zu verhören«, bemerkte er und traf damit den Nagel auf den Kopf.
»Ja, glaube ich auch.«
Unvermittelt drehte sich Brody um, die Zähne gebleckt wie zur Karikatur eines Lächelns. »Wir sind hier die Verbrecher, Carrie und ich«, sagte er. »Weil wir das zugelassen haben.« Er streckte die Hand aus, als wolle er nach Fionas Schulter greifen, überlegte es sich dann aber anders. Noch ehe sie etwas erwidern konnte, wurde die Tür geöffnet, und sie waren nicht mehr allein.
»Es ist Carrie und noch eine Frau. Zwei Detectives sind bei ihnen«, flüsterte Fiona Brody zu und wollte ihn am Arm zu den anderen führen. Doch er schüttelte ihre Hand ab. Er tastete sich zu einem der Stühle vor und ließ sich darauf nieder.
»Was ist denn mit dir passiert?« Mit schmalen Augen betrachtete Carrie Brodys Gesicht.
Er antwortete nicht.
Sie nahm ihm gegenüber Platz, und ihre Freundin, die sie als Leah vorgestellt hatte, setzte sich neben sie. Niemand sprach, bis DCI Masters das Wort ergriff.
»Es waren lange achtundvierzig Stunden, quälend und zermürbend für uns alle. Aber wir machen Fortschritte.«
Carrie richtete sich abrupt auf. Mit erwartungsvoll schiefgelegtem Kopf saß sie da, die Hände auf der Tischplatte fest ineinander verschränkt. Fiona fand, dass sie überhaupt nicht so war wie im Fernsehen. Die gelassene Selbstsicherheit, das aggressive Auftreten – keine Spur mehr davon. Carrie Kent war nur noch eine leere Hülle, farblos und ohne Leben. Zu
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