Der fremde Sohn (German Edition)
sich vor dem Kamin nieder, in dem Brody gleich nach ihrer Ankunft ein Feuer entfacht hatte. Der Besitzer des Cottage hatte für ausreichend Feuerholz und Reisig im Kaminkorb und Champagner im Kühlschrank gesorgt.
»Wir haben gute Freunde«, stellte Carrie fest.
Brodys Hände glitten über ihren Körper, und er hatte das Gesicht in ihrem dichten offenen Haar vergraben. Statt einer Antwort erkundeten seine Lippen ihre Haut, als sei es jetzt, da sie verheiratet waren, eine völlig neue Erfahrung für ihn.
Später saßen sie, in Decken gehüllt, am Feuer, tranken Champagner und aßen mit gutem Appetit von den Canapés, die am selben Tag aus Oxford geliefert worden waren. Carrie lehnte den Kopf an Brodys Schulter.
»Das alles, weißt du … das ist für immer«, sagte sie, mit sich und der Welt zufrieden. »Du und ich, das Haus, Kinder, ein Hund, Urlaubsreisen. Das kann uns nichts und niemand nehmen, nicht wahr?«
Brody schaute auf sie hinunter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Dafür werde ich sorgen«, erwiderte er.
Herbst 2008
D ayna hatte schon oft andere Mädchen über ihre Erlebnisse mit Jungen reden hören. Sofern sie überhaupt zum Unterricht erschienen, unterhielten sie sich in den Pausen darüber, mit wie vielen Jungs sie schon geschlafen hatten, wie sie die Pille danach hatten nehmen müssen, woran sie sich, besoffen wie sie gewesen waren, noch erinnerten, ob sie sich was eingefangen hatten, wie groß oder wie klein der Betreffende gewesen war und ob sie ihm einen geblasen hatten.
All dieses Gerede hatte nichts mit Liebe zu tun, fand Dayna. Jedenfalls nicht mit wahrer Liebe. Ihre ganze Generation – sie eingeschlossen – schien immun gegen derartige Gefühle. Wenigstens hatte sie das immer gedacht. Sie alle waren durch eine harte Schule gegangen, wegen ihrer oftmals kaputten Familien, ihrer gesamten Lebensumstände. Sie versuchten, jeden neuen Tag zu meistern. So jedenfalls sah es in ihrer Siedlung aus. Weder Dayna noch einer ihrer Altersgenossen kannte ein anderes, besseres Dasein.
»Wen glotzt du so an, blöde Tusse?« Es war während der großen Pause. Das Mädchen war groß und hatte geglättete Haare mit ausgefransten weißblonden Spitzen.
»Dich«, erwiderte Dayna achselzuckend. Es war ihr egal, ob die andere wütend wurde. So, wie sie sich fühlte, war ihr alles egal. Sie stieß mit den Absätzen ihrer Stiefel gegen das Mäuerchen, auf dem sie saß, und wartete auf Max. Sie musste mit ihm reden.
Schrilles Gelächter ertönte. Jemand spuckte aus. Die fünf Mädchen, einander so ähnlich, dass sie als Schwestern durchgehen konnten, öffneten ihren Kreis und umringten sie. Dayna schluckte und straffte sich. Gleichzeitig ärgerte sie sich darüber, dass sie sich ihre Angst anmerken ließ. Warum hatte sie bloß diese Bemerkung gemacht? Normalerweise gelang es ihr doch, nicht aufzufallen.
»Also du glotzt mich an«, stellte die Lange fest und musterte Dayna von oben bis unten. »Bist du vielleicht ’ne Lesbe?«
Die Mädchenbande lachte.
»Sie sieht aus wie ’ne Lesbe«, sagte eine andere.
»Du hast hier gar nichts zu glotzen, kapiert? Ich will nicht, dass so eine dreckige Lesbe meinen Körper anstarrt, klar?« Das Mädchen steckte sich eine Zigarette an. Im Gegensatz zu Daynas abkauten Nägeln waren ihre mit rosa Glitzerlack angemalt.
»Red schon, du Lesbe.« Sie verschränkte die Arme und schob eine Hüfte vor.
Dayna wusste, dass sie nie wie diese Mädchen aussehen würde. Sie würde immer anders sein.
»Ich bin keine Lesbe«, sagte sie so leise, dass sie es selbst kaum hören konnte. Ein Teil von ihr wollte beschämt den Kopf hängen lassen und die Quälerei einfach durchstehen. Doch der größere Teil sehnte sich danach, zu treten und zu boxen, Zähne und Klauen in das Mädchen vor ihr zu schlagen.
»Lauter, wir verstehen nichts.« Die Mädchen kamen näher.
»Auf welche von uns stehst du denn, hä?« Wieder Gelächter, noch mehr Zigaretten. Ein Handy meldete piepend eine SMS . Eine kaute Kaugummi, eine andere strich sich das Haar zurück.
Dayna zuckte die Achseln. Sie spürte, wie Adrenalin ihren Körper überschwemmte, wie ihr Atem kurz und stoßweise ging, als die Angst von ihr Besitz ergriff. Sie starrte auf ihre Füße und sagte sich, dass nach ein oder zwei Minuten alles vorbei sein würde – für heute. Sie dachte an Lorrell, die das alles noch vor sich hatte. Was sollte sie ihr raten? Was konnte sie tun, damit ihre kleine Schwester sich nicht Tag für Tag mit
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