Der fremde Tibeter
Dann verstand Shan. Mit den Riten zum Übergang seiner Seele. Der Blick des Alten richtete sich auf die Zellentür, verweilte unsicher auf Yeshes Gestalt und wanderte dann träge weiter. »Wenn man sich treiben läßt, findet man manchmal von selbst den Weg«, murmelte er, als sei ihm versehentlich ein Gedanke entschlüpft.
Jigme stand am Gitter und klammerte sich daran fest, als würde er andernfalls fortgetragen werden. »Wir könnten ihn bitten, vom Berg herunterzukommen«, flüsterte er Shan zu. »Er ist solch ein heiliger Mann; vielleicht würde er helfen.«
»Ein Heiler?« fragte Yeshe. »Habt ihr einen Heiler gefunden?«
»Er ist hungrig, der Pferdeköpfige«, sagte Jigme mit hohler Stimme. »Gut, soll er mich verschlingen. Das ist mir egal. Vielleicht könnt ihr dann mit ihm reden, vielleicht wird er euch dann dabei helfen, Sungpo zu retten.«
Shan eilte sofort zu ihm und zog ihn von den Gitterstäben weg. »Ihr habt ihn gefunden? Ihr habt Tamdin gefunden?«
Da war eine Höhle, räumte Jigme schließlich ein, in welcher der Dämon schlief. »Die Hand des Dämons war verschwunden, aber der alte Mann, den wir vom Markt mitgenommen hatten, kannte sich gut mit Gebeten aus. Zuerst kamen nur Leute aus den Dörfern und Hirten. Doch dann kam einer von oben, stieg den Berg herunter wie eine Ziege, auf einem Pfad, der nicht breiter war als die Hand eines Mannes. Er hat das Gebet gegen Hundebisse zurückgelassen, einige Mantras aufgesagt und ist wieder den Hang hinaufgeklettert. Auch ohne den alten Mann hätte ich gewußt, daß es sich um Tamdins Diener handelt, denn sie waren auch da.«
»Sie?«
»Die Geier. Sie folgten ihm, als wären sie zahm, als wüßten sie, daß er ihnen frisches Fleisch bringen würde.«
Jigme und Sergeant Feng waren Tamdins Diener auf dem tückischen Pfad fast zwei Kilometer weit den Hang hinauf bis zu einer versteckten Höhle dicht unterhalb der Kammlinie gefolgt. »Nachdem er mit einem leeren Wasserkrug weggegangen war, habe ich mich hineingeschlichen. Aber Tamdin hatte die Form eines Wolfsdämons angenommen.« Jigme zog sein Hosenbein hoch und zeigte ihnen eine gezackte, nässende Wunde in seiner Wade, deren Rand deutliche Bißspuren trug. »Verflucht noch mal, ich bin gerannt, so schnell ich konnte.«
»Könnten Sie uns die Stelle zeigen?« fragte Yeshe aufgeregt.
Jigme nickte langsam und schaute zu Je. »Soll er mich verschlingen, als ein Opfer. Das ist mir egal. Sungpo wird mich im nächsten Leben wiederfinden. Wenn er sich den Bauch vollgeschlagen hat, wird Tamdin vielleicht mit euch sprechen. Bittet ihn, wegen Rinpoche ins Tal zu kommen. Aber vielleicht ist nicht genug Zeit. Wir müssen den Berg hoch; die Höhle liegt weit oberhalb des Schreins der Amerikaner. Es ist ein schwieriger Aufstieg.«
»Nein«, warf Shan ein. »Es gibt einen leichteren Weg.«
»Woher wissen Sie das?« fragte Yeshe.
»Weil ich weiß, von wo Tamdins Diener gekommen ist.«
Die vier Männer stiegen schweigend und nachdenklich zwischen den Felsen empor. Ihnen war unwohl zumute, der Wind peitschte sie, und die dünne Höhenluft raubte ihnen die Kräfte. Sie hatten den Pfad genau da gefunden, wo Shan ihn erwartet hatte, parallel zum Drachenschlund. Er kreuzte den Weg hinter den Felsformationen in der Nähe der alten Hängebrücke. Auf einer Strecke von etwa anderthalb Kilometern stieg er zunächst steil die Nordklaue empor und folgte dann dem Verlauf der langgezogenen Kammlinie.
Jigme, der darauf bestanden hatte voranzugehen, fiel plötzlich auf die Knie und wies nach vorn. »Da!« keuchte er. »Der Diener!«
Fengs Hand legte sich auf die Pistole. »Nein«, sagte Shan. »Er wird uns nichts tun. Lassen Sie mich allein mit ihm sprechen.«
Als der Mann näher kam, saß Shan allein vor einigen großen Felsen. Die anderen hatten sich dahinter versteckt. Der Neuankömmling trug einen Leinensack über der Schulter und zwei gaus um den Hals. Er blieb schlagartig stehen und musterte Shan argwöhnisch.
»Hallo, Chinese.«
»Ich bin froh, daß Sie es sind, Merak.«
Der Dorfvorsteher der ragyapas nickte, als würde er begreifen. »Es hat niemals jemand anders um die Zaubersprüche gebeten, nicht wahr?« fragte Shan.
Merak legte den Sack ab und lehnte sich neben Shan an den Felsen. Eine Hand lag auf seinen gaus. Er schien erleichtert zu sein, daß man ihn entdeckt hatte. »Aber wer hätte das schon geglaubt? Es kommt nicht oft vor, daß ein ragyapa zu großen Taten berufen wird.«
»Was tun Sie für
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