Der fremde Tibeter
einem verfaulenden Baumstamm. Schon bald wird er einfach davonschweben«, sagte Jigme mit verzweifelter Stimme und verschleierten, feuchten Augen, als wäre der Trauerfall bereits eingetreten. »Ich will nicht, daß er geht. Nicht auch noch Rinpoche. Lassen Sie ihn nicht gehen. Ich flehe Sie an.« Er packte Shans Hand und drückte sie so fest, daß es weh tat.
Eine Pfeife ertönte. Die Kriecher nahmen Haltung an, und eine Regierungslimousine kam in Sicht. Li Aidang sprang heraus, bedachte den Major mit einer flotten, abgekürzten Ehrenbezeigung und ging zu Tan herüber. Sie sprachen kurz miteinander, und dann schritt Li mit dem Major die Reihe der Kriecher ab, als würde er eine Truppeninspektion vornehmen.
Shan gab Sergeant Feng einen Stoß. »Fahren Sie in die Stadt«, sagte er drängend. »Holen Sie Dr. Sung, und bringen Sie sie zur Kaserne.«
Oberst Tan stand da, als würde er auf Shan warten, und musterte schweigend die Zivilisten.
»Warum müssen die Lektionen immer so schmerzhaft sein?« fragte der Oberst leise. »Fast fünfzig Jahre, und sie verstehen es noch immer nicht. Die Leute wissen, was wir zu tun haben.«
»Nein«, entgegnete Shan. »Die Leute wissen, was sie zu tun haben.«
Tan ließ nicht erkennen, ob er ihn gehört hatte.
Shan drehte sich zu ihm und kämpfte gegen das Verlangen an, zurück zum Zaun zu rennen. »Ich muß da rein.«
»Um sich vor die Waffen des Kommandos zu stellen? Kommt nicht in Frage.«
»Ich habe keine Wahl. Das sind meine... wir können sie nicht sterben lassen.«
»Glaubst du, ich will ein Blutbad?« Tans Gesicht umwölkte sich. »Vierzig Jahre in der Armee, und dafür wird man mich nun in Erinnerung behalten. Für das Massaker bei der 404ten.«
Die Limousine hupte. Tan seufzte. »Li Aidang will, daß ich mitkomme. Wir müssen aufbrechen. Ich werde dich im Lager Jadefrühling absetzen. Es gibt einen Empfang für die amerikanischen Touristen. Außerdem letzte Vorbereitungen vor dem Eintreffen der Delegation des Ministeriums. Und ein besonderes Bankett. Offenbar rechnet Genosse Li damit, nach dem Prozeß zum Ankläger befördert zu werden.«
Sie hielten oberhalb der Abzweigung zum Lager Jadefrühling.
Man hatte hier quer über die Straße eine neue Sperre errichtet, die von zwei Soldaten bewacht wurde, um die Zufahrt zum Gefängnis und zur Kaserne zu regeln. An der Schranke hing ein Schild, auf dem in englischer Sprache STRASSE WEGEN BAUARBEITEN GESPERRT stand. Im ersten Moment war Shan verwirrt, doch dann fiel es ihm wieder ein. Die amerikanischen Touristen.
Noch bevor Shan aus dem Wagen aussteigen konnte, erschien Li am Fenster und ließ einen Umschlag in Tans Schoß fallen.
»Hier sind mein abgeschlossener Bericht und die Aussage des Mörders«, verkündete er. »Die Verhandlung ist für übermorgen anberaumt, zehn Uhr vormittags. Im Stadion des Volkes.« Er warf Shan einen eisigen Blick zu. »Es sind neunzig Minuten eingeplant. Bis zum Mittagessen müssen wir fertig sein.«
Die oberste Seite der Akte war eine handschriftliche Namenliste. Shan zog sie heraus, um sie genauer in Augenschein zu nehmen. Die Ehrengäste der Veranstaltung im Stadion, die auf der Empore Platz finden sollten. An erster Stelle standen die Angehörigen der Gastdelegation des Justizministeriums, gefolgt von Oberst Tan und einem halben Dutzend ortsansässiger Würdenträger. Shan sah, daß Direktor Hu vom Ministerium für Geologie ebenso aufgeführt war wie Major Yang vom Büro für Öffentliche Sicherheit. Als er ein Ideogramm kurz vor dem Ende der Liste sah, überkam ihn ein Frösteln. Kein Name, kein Titel, lediglich das umgekehrte Y mit den beiden Balken.
Als Shan auf das Symbol wies, bemerkte Tan seinen fragenden Gesichtsausdruck. »Bloß der Spitzname«, sagte er angewidert. »Er mag es, wenn seine Freunde ihn so nennen. Hält es wohl für witzig.«
»Himmel?«
»Allerdings. Du weißt doch, Gott im Himmel. Alle Priester huldigen ihm.«
Shan nahm das Blatt und starrte es mit grimmiger Entschlossenheit an. Dieser Gast auf dem Podium war derselbe Mann, dessen Unterschrift zur Bestätigung auf der Karteikarte mit Jaos Siegel stand, die Shan aus dem Museum mitgenommen hatte. Die gleiche Unterschrift fand sich zudem auf der Nachricht, von der Shan annahm, daß sie Ankläger Jao in die Todesfalle gelockt hatte, wenngleich er letzteres nicht beweisen konnte.
Wen Li, der Direktor für Religiöse Angelegenheiten.
Kapitel 18
Sungpo bewegte sich zum erstenmal. Er barg den Kopf des alten
Weitere Kostenlose Bücher